Saemtliche Werke von Jean Paul
besudelten Herzen, das der Hochverrat gegen einen Freund erfüllte?
Viktor wollte schon um halb zehn Uhr ins Schloß, aber die Kammerherrin hatte die Augenbraunen und den Seidenpudel noch nicht ausgekämmt. – Seebaß brachte ein Billet an Flamin:
»Ich sehe Sie, mein Teuerster, heute nicht. Mich binden drei Grazien an; und die dritte haben Sie selber geschickt. Sagen Sie Ihrem britischen Freunde, er soll mich lieben, da ich Sie liebe. Ohne Sympathie kann wohl die Chirurgie bestehen, aber nicht die Freundschaft.
Ihr
Matthieu.«
Ein närrisches Billet! Als Viktor hörte, daß Agathe die dritte Grazie sei: so war ihm ein großes Loch in den Vorhang des Theaters geschnitten, auf welchem Matthieu Flamins Freund und Agathens – ersten Liebhaber machte. Nichts ist fataler als ein Nest, worin lauter Brüder oder lauter Schwestern sitzen; gemischt zu einer bunten Reihe muß das Nest sein, Brüder und Schwestern nämlich schichtweise gepackt, so daß ein ehrlicher Pastor fido kommen und nach dem Bruder fragen kann, wenn er bloß nach der Schwester aus ist; und so muß auch die Liebhaberin eines Bruders durchaus und noch nötiger eine Schwester haben, deren Freundin sie ist, und die der Henkel und Schaft am Bruder wird. Unsre türkische Anständigkeit verlangte also, daß Matthieu mit seinem Operngucker nach Flamin zielte, um Agathen zu sehen; und daß Klotilde diese besuchte, da Flamin als Mann ohne Ahnen, aber von Ehre durchaus seine bürgerlichen Besuche dem kammerherrlichen Hause nicht aufdrang. Klotilde kam oft; und war dadurch in einem mir bis jetzt unaufgelösten Widerspruch mit ihrem weiblich-erhabnen Charakter.
Flamin tauchte Matthieus Bild in einen ganz andern Färbekessel als der Mutter ihren: ein lüderliches Genie war er und nichts Schlimmers. Er machte alles in der Welt nach, und ihn konnte man nicht nachmachen – er konnte alle Spieler der Flachsenfinger Truppe nachspielen und travestieren und die Logen dazu – er verstand mehr Wissenschaften als der ganze Hof, ja mehr Sprachen, bis sogar auf die Stimmen der Nachtigall und des Hahns, welche er so täuschend nachmachte, daß Petrarca und Petrus davongelaufen wären – er konnte bei den Weibern tun, was er wollte, und jede Hofdame entschuldigte sich mit der andern – denn es gehörte einmal zum Ton in Flachsenfingen, seine Treue einmal auf die Probe gesetzt zu haben. – Man sagt, die Liebe gegen ihn wurde wie ein Strumpf bei der Wade zu stricken angefangen, es ist aber grundfalsch – es ist daher bei so einer ununterbrochnen Mäßigkeit in Hoflustbarkeiten kein Wunder, daß er stärker und gesünder war als der ganze ausgebrannte abgedampfte Hof – nur stechend war er zu sehr und zu philosophisch und fast zu schelmisch.
Ich, Viktor und der Leser haben noch immer nur eine unbestimmte verwischte Kreidenzeichnung von Matthieu im Kopf. Meinem Helden gefiel er ein wenig, wie jeder exzentrische Mensch einem exzentrischen; es war sein Fehler, daß er der Kraft zu leicht die ihrigen, sogar moralische, verzieh. – Mit verdoppelter Neugierde trat er seinen Weg ins Schloß oder vielmehr in dessen großen Garten an, der an jenes seinen Halbzirkel von grünen Schönheiten anschließt. Er lief im Hafen eines Laubenganges ein und freuete sich, wie der durchlöcherte Schatten der Lauben, um deren Eisen-Gerippe sich weiche Zweige wie sanftes Haar um Haarnadeln wickelten, blendend über seinen Körper glitt. Neben seinem Laubengange strich ein anderer gleich. Er ging versäeten schwarzen Papierschnitzeln als Wegweisern nach. Das Geflüster des Morgenwindes warf von einem Zweige ein Blättchen feines Papier herab, das er nahm, um es zu lesen. Er war noch über der ersten Zeile: »Der Mensch hat dritthalb Minuten, eine, um einmal zu lächeln…«, als er an einen fast waagrechten Zopf anstieß, der eine schwarze Herkules-Keule war, verglichen mit meinem oder des Lesers geflochtenen Haar-Röhrchen. Den Zopf stülpte ein niedergekrempter Kopf empor, der in einem horchenden Zielen aus einer Lauben-Nische eine weibliche Silhouette ausschnitt, deren Urbild im Nebenlaubengang mit Agathen sprach. Auf Viktors Geräusche kehrte die Person, der man das Halbgesicht durch die Nische entwendete, sich verwundert herum und erblickte den Inhaber des Zyklopen-Zopfes mit der Silhouettenschere und den Helden der Hundposttage. Der Inhaber drückte, ohne weiter ein Wort zu sagen, seine Künstler-Hand durch das Gesträuch und langte ihr ihren Schattenriß oder Schattenschnitt hinaus.
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