Saemtliche Werke von Jean Paul
Frankreich her drohte die Revolution, in Berlin hatte die Aufklärung ihren Höhepunkt überschritten und begann die Zeit sich neuen Zielen zuzuwenden, indes die kleinen protestantischen Duodezfürstentümer noch immer im Schatten des Westfälischen Friedens lagen. Nur wenige Geister hatte die Welle der Aufklärung ergriffen, nur in wenigen Briefstellen einiger geistig besonders Bewegter wurde der westlichen Revolution Erwähnung getan. Im allgemeinen lag das Land im Schlummer und spann sein kärgliches Dasein, fern von aufreizenden Einflüssen und Einwirkungen. Wie in verlorenes Kinderland mußte Jean Paul seinen Blick über den stillen Frieden dieser Täler schweifen lassen. So hatte er gelebt, bevor der Geist ihn ergriff und ihn in die Zusammenhänge eines höheren Daseins verflocht. Essen und Sonnenschein, häusliche Wärme, Geburt und Tod, Not und Freude, das waren die großen Ereignisse in diesem Dasein voll epischen Dahingleitens. Kinder wuchsen auf und trieben im Schatten der Erwachsenen, die kaum anders waren als Kinder, ihre kindlichen Spiele. Die Jahreszeiten formten in ewiger Gebundenheit an dem Leben des Tages. Groß war das Elend und gering zugemessen die Freude, und doch lag alles in der Riesenhand eines Gottes, war geborgen in Einfalt und schlichtem Sinn und der Unbeirrbarkeit des gegebenen Daseins. Wie vom Himmel kam Not und Teuerung. Man dachte nicht menschlicher Gier und Eigennutzes. Kein Schrei der Empörung stieg aus gequältem Herzen. Mit der Gelassenheit des Naturereignisses wurde hingenommen, was von irgendwoher kam. Geist ist immer voller Empörung, aber Dasein voll frommer Geduld.
Mit solchen Augen blickte Jean Paul von seiner ländlichen Klause in das Leben rings um ihn. Jetzt, da er den inneren und äußeren Abstand zu diesem Dasein gewonnen hatte, konnte er nicht anders als in gläubiger Sehnsucht seinen Blick nach diesem Leben voller Ergebung zurückwenden. Er selbst war einer gewesen wie diese vielen, die mit dem Glück und der Not der Kreatur dahinlebten. Monatelang hatten seine Mahlzeiten aus trockenem Brot und Salat bestanden. Er kannte die Seligkeit, die ein gewonnener Taler über eine Familie ausschütten kann, größer als ein Goldregen über das Leben der Reichen. In diese Bezirke ergebener Menschlichkeit reichte nichts von den geistigen Kämpfen hinein, nichts von den Erschütterungen, die ringsum die Welt in Brand setzten. Eine ungeheure Kunst schien ihm das Leben dieser Armen und doch fast einzig Reichen. Schlicht und evangelisch lief es dahin. Nicht Not und Tod brachte solche Herzen außer sich, sie ruhten immer an der Brust der großen Gegebenheit, die Leben hieß. Ein solches Dasein zu schildern, mußte ihn reizen, je mehr er mit einem Teil seiner Seele noch immer an ihm hing.
Schon in der »Unsichtbaren Loge« wurde liebevoll des Schulmeisterlein Wuz gedacht. Das »Einbein« wohnt in seinem Hause, nimmt teil an seinem Familienleben, vereinigt sich zu Freudenfesten mit diesen Menschen, läßt uns Blicke in das schmale und doch so reiche Glück dieses Familienkreises tun. Aber Jean Paul wollte mehr, wollte in einer besonderen Dichtung ein solches Leben in seiner Totalität vor uns aufrollen, und er tat es in dem »Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal«.
Der »Wuz« (Jean Paul schreibt in späteren Jahren auch manchmal »Wutz«) ist eine der bekanntesten Dichtungen Jean Pauls geworden. Man nahm das Enge und Idyllische darin für einen besonders gelungenen Ausdruck seines Gemüts. Aber man versteht doch den Dichter nicht, wenn man diese seine Idyllendichtung nicht in den großen Zusammenhang seiner Weltschau einordnet. Gewiß ist Jean Paul, schon von Blut, auch ein Vertreter jenes »altfränkischen« behaglichen Geistes, der uns heute so paradiesisch und so entlegen anmutet. Aber er selbst hat an diesem »altfränkischen« Geiste doch nur das vorübergehende Behagen, das wir heute an ihm haben. Er sah weit tiefer. »Tief im Menschen ruhet etwas unbezwingliches, das der Schmerz nur betäubt, nicht besiegt«, heißt es am Schluß des »Wuz«. Hier ist der tiefe Grund bezeichnet, auf dem Jean Pauls Idyllendichtung beruht: das unbezwingliche Ich, das tief im Menschen ruht, das durch ein Jahrhundert der Unrast, der Gier verschüttet werden kann und sich doch immer wieder herausarbeiten wird. Es ist das »Tao« des ewigen, des chinesischen Volkes, das wir als aus der Exotik kommend heute bestaunen, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß es vor einem
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