Saemtliche Werke von Jean Paul
und muß im entscheidenden Moment abgebrochen werden. Das Reisegeld reicht nicht. Fälbel läßt seine Tochter Kordula bei dem Thiersheimer Wirt zum Pfande und tritt mit seinen Primanern den Rückweg an.
Über den Rahmen einer bloßen Humoreske ragen die üblen Charaktereigenschaften des Rektors hinaus. Nicht als Stilwidrigkeit, denn sie verdeutlichen das satirische Porträt durch lebendige Züge. Fälbel ist nicht allein borniert, pedantisch, geizig, er ist herzlos und von einer unbewußten, aber deshalb nicht weniger empörenden Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leid. Das tritt schon in seinem Verhältnis zu Kordula zutage, die er wie ein Küchensudel behandelt und ausnutzt, einer adligen Familie zur schrankenlosen Ausbeutung überlassen will, und die er einfach als Pfand bei einem fremden Gastwirt daläßt. Noch viel krasser tritt sein Mangel an Mitgefühl bei der Erschießung eines armen ungarischen Deserteurs hervor, vor dessen qualvoller Todesangst er mit seinen Primanern Sprechübungen im Lateinischen veranstaltet. Vor den Machtmitteln des Staates knickt der eingebildete Pedant in heuchlerischer Anerkennung zusammen. Mit der lateinischen Syntax zerstreut er »glücklich jedes Mitleiden mit dem Malefikanten, gegen das sich schon die Stoiker so deutlich erklären, und das ich nur dem schwächeren Geschlechte zugute halte; daher wird es der Billige mit dem Augentauwetter meiner Tochter wegen des Inkulpaten nicht so genau nehmen.« An diesen Stellen ergreift dann Jean Paul selbst das Wort, um Kordulas und aller niedergedrückten Töchter und Frauen Partei zu nehmen. »Ihr Vater ließ, wie die meisten Schulleute,« schreibt er von der Tochter des Gymnasiarchen, »durch die Römer verwöhnt, nichts einer Frau zu, als daß der Körper ein Koch wurde und die Seele eine Köchin.« »Oh, es ist mir jetzt, als säh’ und hört’ ich in alle eure Häuser hinein, wo ihr, Väter und Ehemänner mit vierschrötigem Herzen und dickstämmiger Seele, beherrschet, abhärtet und einquetschet die Seele, die euch lieben will und hassen soll… o ihr milden, weichen, unter schweren, finstern Schnee gebückten Blumen, was will ich euch wünschen, als daß der Gram, eh ihr mit besudelten, entfärbten, zerdrückten Blättern verweset, euch mit den Knospen umbeuge und abbreche für den Frühling einer anderen Erde? – Und ihr seid schuld, daß ich mich nicht so freuen kann, wenn ich zuweilen eine zartfühlende, unter einer ewigen Sonne blühende Schwester von euch finde, eine hauchende Blume im Wonnemond: denn ich muß denken an diejenigen von euch, deren ödes Leben eine in einer düsteren Obstkammer durchfrorene Dezembernacht ist.« Was nicht in den Rahmen dieser engen Charakterstudie einging, das tat sich hier als Programm des Autors, als Schrei aus dem Werk heraus kund. Es war das alle Werke Jean Pauls beherrschende Thema: sein Mitleid mit der von den Wirtschaftsansprüchen des Lebens und gefühlloser Männer niedergebeugten Frauenseele. Und ebenso aus dem Werk heraustretend nahm er sich des armen füsilierten Deserteurs an, dessen rührende Geschichte er in einer Einschaltung gibt. Hier läßt seine Form noch die Sicherheit ihrer kalten Beherrschung vermissen, und doch freuen wir uns dieser die Form sprengenden Einschiebsel des enthusiastischen Jünglings, der mit rousseaugroßem Mitleid die Welt der Erniedrigten und Beleidigten umfaßt und für sie predigt, wenn ihr Schicksal nicht ins künstlerisch gerundete Bild zu fassen geht. Später, in »Des Feldpredigers Attila Schmelzle Reise nach Flätz«, hat er diese Form der Satire musterhaft durchkomponiert und gleichfalls in einer unfreiwilligen Beichte eine Welt eingefangen, um sie mit ewiger Lächerlichkeit behaftet wieder zu entlassen, ohne die Einheit der Diktion zu durchbrechen. Aber auch der Rektor Fälbel bereits ist das Virtuosenstück einer Charakterstudie. Das große Vorbild der Alten, ihre heroische Lebensführung, wurde hier in komischen Gegensatz zu seinem Bekenner und Nachahmer gestellt. Ein Typus, unter dem er in seiner Jugend genug gelitten hatte, ward hier mit satirischem Behagen abgetan.
Im Februar 1791, also während der Arbeit an der »Unsichtbaren Loge«, hat Jean Paul wahrscheinlich die kleine Arbeit beendet, um sie vor der Drucklegung 1795 noch einmal, nach Ottos Vorschlägen, gründlich durchzuarbeiten.
Eine ungeheure Arbeitslast lag auf den Schultern des jungen Schulmeisters. Damals trat die Aufgabe an ihn heran, Hermanns Schriften für eine
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