Saemtliche Werke von Jean Paul
Fenster des Pfarrhauses Viktors Wachsbüste gesehen, die am Tag vor seiner Abreise angefertigt wurde, und sie für Viktor selber gehalten. Viktor aber ist nicht sicher, ob sie in Kussewitz nicht seinen Scherz mit der Verkleidung und dem in die Uhr geklebten Zettel an die Fürstin in Erfahrung gebracht haben. Er fühlt, daß sich die Dinge einer Entscheidung zuspitzen. Vor der bereits beschlossenen Liebeserklärung an Joachime hat ihn der Zufall der kleinen Reise bewahrt. Sein Gefühl für Klothilde hätte ihn kaum davon zurückhalten können, denn immer klarer wird es ihm, daß sie den blinden Flötenspieler Julius liebt.
Seine scherzhafte Verkleidung in Kussewitz liegt Viktor schwer auf der Seele. Jeden Augenblick kann die Entdeckung kommen, jeden Augenblick der übermütige Zettel gefunden und die Handschrift erkannt werden. Ganz plötzlich wird Viktor zur Fürstin gerufen, und zu seinem Schrecken ist auch der Kussewitzer Händler Tostato dort. Viktor fühlt sich verloren, da der Italiener der Fürstin von der scherzhaften Verkleidung ihres jetzigen Leibarztes erzählt. Aber die Wirkung ist anders, als Viktor geglaubt hat. Die Uhr hat Agnola längst, ohne sie zu öffnen, an Joachime weitergeschenkt. Sie weiß nur von der Verkleidung Viktors und schließt auf eine heimliche Leidenschaft Viktors zu ihr. Mit den Mitteln einer der Südländerin zu Gebote stehenden Koketterie nähert sie sich dem Hofarzt. Infolge eines seltenen Zufalls muß Viktor, um sich aus einer augenblicklichen Verlegenheit zu ziehen, sie küssen, aber sein kühler Abschied zeigt der Fürstin, daß seine Leidenschaft zu ihr nur die Laune eines Augenblicks gewesen. Durch diesen Vorfall glaubt Viktor seine Stellung am Hof völlig erschüttert. Auch Joachime und Matthieu muß er sich zu Feinden machen. Aus spöttischen Bemerkungen Matthieus glaubt Viktor entnehmen zu können, daß Joachime den Zettel in der Uhr gefunden, die Handschrift erkannt und die Liebeserklärung auf sich bezogen hat. Viktor hält es für notwendig, sie aufzuklären und ihr den scherzhaften Vorfall zu erzählen. Jetzt erst fällt der Zettel aus dem Uhrgehäuse. Joachime ist wütend, und durch die Erzählung hat er sich völlig in ihre Hand gegeben. Er weiß, daß sie im gegebenen Augenblick die Waffe gegen ihn rücksichtslos gebrauchen wird.
Inzwischen sind in St. Lüne große Veränderungen vor sich gegangen. Drei Engländer sind im Hause des Hofkaplans eingekehrt, wilde, freiheitstrunkene Gesellen, von dem Weltfieber der Revolution ergriffen und von Freiheit und Fürstensturz träumend. Unschwer vermutet man in ihnen die drei Söhne des Fürsten, die verschwunden waren und als »Gelehrte und Immer-Freie« durch die Welt schweifen. Das Bild der englischen Freiheit, wie es Jean Paul aus Archenholzs Reisebuch »England und Italien« kannte, hat den drei Gestalten die Farben gegeben. In Verzweiflungsstimmung geht Viktor nach St. Lüne. Er lebt im Pfarrhause mit den drei Engländern und Flamin zusammen. Die revolutionäre Wildheit der drei Freiheitsschwärmer ist ganz seiner Stimmung angemessen. Im Handumdrehen ist er ein Herz und eine Seele mit ihnen, und auch Flamin wird von ihrer Freiheitsbegeisterung erfaßt. Ein ungekannter Geist belebt auf einmal das stille Haus des guten Hofkaplans, dem bei den Reden seiner Gäste gar nicht geheuer ist. Ganz andere Gäste beherbergt das Schloß. Dort weilen außer Klothilde noch Matthieu und Joachime. Den Verwickelungen, denen Viktor entgehen wollte, ist er somit gerade entgegengegangen. Zu seiner Verzweiflung kommt hinzu, daß der schwatzhafte Apotheker Zeusel ihn über die Intrigen der Schleunesschen Gesellschaft aufgeklärt hat: Matthieu hätte ein Verhältnis mit der Fürstin. Jetzt wolle er sich mit Klothilde vermählen, um sie dem Fürsten, der eine Neigung zu der Hofdame gefaßt hätte, auszuliefern. Damit hätte die Schleunessche Familie den Fürsten und die Fürstin an sich gefesselt. Viktor kann für sich diese Aufklärungen noch dahin ergänzen, daß man ihn und Flamin auseinanderbringen wird, um auch diesen, den »Infanten«, ganz in die Hand zu bekommen. Er merkt, daß er im Mittelpunkt einer riesenhaft angesponnenen Intrige steht, die sich im Grunde gegen seinen Vater, den Lord, richtet. Le Baut, glaubt er, wird leicht zur Einwilligung zu bekommen sein, damit er die Gunst des Fürsten wiedererlange, aus der ihn der Einfluß des Lords gerissen hat. So ist die innere Situation in St. Lüne, die sich nach außenhin wie die
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