Saemtliche Werke von Jean Paul
höchster innerer Wahrheit ist. Ein Gespräch zwischen Joachime, Viktor und ihrem Bruder über die Liebe gibt Viktor Gelegenheit, die heiße innere bürgerliche Liebe mit all ihrem Zauber der kalten höfischen Liebe entgegenzusetzen. Hier sieht man, wie Jean Paul sein Thema auf immer höherer Ebene aufzunehmen und durchzuführen vermag. Dieses Gespräch ist in gewissem Sinne ein Gegenstück zu den Ausführungen über die Simultan- und Tutti-Liebe. Viktors Einstellung hat sich wesentlich gewandelt. Das drittemal, man fühlt es deutlich, wird die eigentliche Liebe selbst in Erscheinung treten und die Handlung fortführen. Inzwischen scheint sich allerdings die Handlung ganz ins Höfische zu wenden. Der ränkesüchtige Matthieu beginnt Klothilden nachzustellen, und Viktor steht dicht vor einer Liebeserklärung an Joachime.
Zwischen die weitere Entwickelung hat Jean Paul einen bedeutenden »Schalttag« eingeschoben, wie er im »Hesperus« die »Extrablätter« benennt. »Über die Wüste und das gelobte Land des Menschengeschlechts.« Man wird oft vergeblich die innere Verbindung zwischen solchen Einschiebseln und dem Gang der Handlung suchen. Hier aber steht der Schalttag an bedeutsamer Stelle, und er untersucht das Problem des Fortschritts des Menschengeschlechts und das Ziel des ewigen Friedens. Etwas ungeheuer Revolutionäres steckt in diesen Betrachtungen, die die Problemstellung eines Spengler vorausnehmen und überholen. »Unsre Wetterprophezeiungen aus der gegenwärtigen Temperatur«, heißt es, »sind logisch richtig und historisch falsch, weil neue Zufälle, ein Erdbeben, ein Komet die Ströme des ganzen Dunstkreises umwenden… Noch liegen vier Weltteile voll angeketteter wilder Völker – ihre Kette wird täglich dünner – die Zeit schließet sie los – welche Verwüstungen, wenigstens Veränderungen, müssen diese nicht auf dem kleinen bowling-green unserer kultivierten Länder anrichten? – Gleichwohl müssen alle Völker der Erde einmal zusammengegossen werden und sich in gemeinschaftlicher Gärung abklären, wenn einmal dieser Lebens-Dunstkreis heiter werden soll.« Aus der Ungleichheit der nebeneinander wohnenden Kulturen und Machtverhältnisse wird alles Unheil der Geschichte und jedes Verbrechen der Völker hergeleitet. »Ein ewiges Gleichgewicht von Europa setzt ein Gleichgewicht der vier übrigen Weltteile voraus, welches man, kleine Vibrationen abgerechnet, unsrer Kugel versprechen kann. Man wird künftig ebensowenig einen Wilden als eine Insel entdecken… Noch steht ein Gespenst aus Mitternacht da, das weit in die Zeiten des Lichts hereinreicht – der Krieg. Aber den Wappenadlern wachsen Krallen und Schnabel so lange, bis sie sich wie Eberhauer krümmen und sich selber unbrauchbar machen… Dieses lange Gewitter, das schon seit 6 Jahrtausenden über unserer Kugel steht, stürmt fort, bis Wolken und Erde einander mit einem gleichen Maß von Blitzmaterie vollgeschlagen haben.« Ein ungeheurer Optimismus rüttelt hier an den bestehenden Ordnungen. »Die Astronomie verspricht der Erde eine ewige Frühling-Tag- und Nachtgleiche; und die Geschichte verspricht ihr eine höhere: vielleicht fallen beide ewige Frühlinge ineinander.« Es ist der Optimismus des 18. Jahrhunderts, der in Herders Humanitätslehre und in Kants Schrift »Vom ewigen Frieden« seinen beherrschenden Gipfel erreichte. Aber hier wird dieser Optimismus nicht mehr von dem kindlichen Zutrauen zur Macht der Vernunft getragen, hier werden die kosmischen Gesetze und ein ungeheurer Überblick über die Gesamtoberfläche der Erde hinzugezogen, um das Ethos eines allmenschlichen Zieles zu stützen. »Wenn diese Festzeit kömmt, dann sind unsre Kindeskinder – nicht mehr.« Unermeßliche Erschütterungen hat die Erde noch durchzumachen, ehe alle Völker auf eine gemeinsame Ebene des Rechts und der Gesittung gebracht sind, und ein unerschütterlicher Wille ist nötig, um dieses Ziel auch nur als Ziel zu zeigen. Ein ungeheures Ethos steht hinter diesen Betrachtungen, die uns im Zusammenhange mit Jean Pauls politischen Schriften noch beschäftigen werden. Ein revolutionäres Grundgefühl bricht hervor, wiederum wie überhaupt Jean Pauls Tugendbegriff von einer Weltverantwortung getragen. Wie ein Block stehen diese Ausführungen mitten in dem Roman, ehe er zur Revolutionsdichtung wird. –
Joachime und Matthieu kommen von einem Ausflug nach Kussewitz und St. Lüne zurück und sind gegen Viktor wie ausgewechselt. Offenbar haben sie im
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