Saemtliche Werke von Jean Paul
Zuschauer seines phantastischen Tuns. Die Einfälle strömen ungesucht aus ihm hervor, und er muß ihnen nachgeben. So besteigt er nachts die Kanzel einer verlassenen Kirche und hält sich selbst die Predigt, bis ihn der Irrsinn des Lebens zu Tränen erschüttert und er hilflos niedersinkt. Und dieser Mann mit dem unbedingten Unabhängigkeitsbedürfnis muß von Liebe zu Linda ergriffen werden, daß sie ihn durch und durch schüttelt. Er trägt das kummerschwere Herz in die Einsamkeit, den Blick der Geliebten fliehend, leidend unter der Lächerlichkeit seines Zustands. Es ist das erste Zeichen des nahenden Zerfalls. Das »Ich« Fichtes beginnt ihn zu verfolgen. Wenn er die Landstraße entlang geht, muß er auf einmal seine Beine ansehen, und es rührt ihn schauerlich an, daß ein Ich unter ihm daherschreitet. Oder er hebt des Nachts seine Hand hoch und fühlt das nahe und fremde Ich, dem diese Hand gehört. Aus den Spiegeln grinst es ihn an, und als der Armenadvokat Siebenkäs ihn aufsucht und in einer Kirche trifft, schmettert ihn die Ähnlichkeit des Freundes zu Boden. Er glaubt, »der Ich« komme ihn holen, und stirbt.
Der Gigantenkampf Schoppes gegen den Tod gehört zu den erschütterndsten Partien, die Jean Paul geschrieben hat. Durch den Mund Siebenkäs’, der selbst ja eigentlich Leibgeber heißt und nur den Namen mit dem Freund vertauscht hat, erfahren wir Näheres von seinem Leben. Er stamme aus Holland und heiße eigentlich Kees, welchem Namen er erst das Seven oder Sieben vorgesetzt habe. Wie es sich aber auch verhalten mag: keine näheren Bestimmungen können die unergründliche Heimatlosigkeit dieses die ganze Welt durchwandernden Sonderlings fortnehmen. Wie er während eines Sturmes auf dem Meere geboren ist, so bleibt er unverankert. Auch Schoppe sinkt durch Einkräftigkeit dahin. Sein sprödes Wesen kann sich der Welt nicht amalgamieren. Das Ich, auf das sein Leben gestützt ist, bricht in sich selbst zusammen. Auch er ist ein Anti-Titan, dessen grenzenloser Drang kein Objekt findet, um daran zu wurzeln. Schoppes Titanengestalt oder Anti-Titanengestalt ist die eigentlich schöpferische Kritik Jean Pauls an der Philosophie Fichtes.
An ihrer Einkräftigkeit vergeht auch die eigentliche Titanide, die dem Werk den Namen gegeben hat: Linda. Zu dieser Gestalt ballte Jean Paul alle die Frauen zusammen, die ihm während der letzten Jahre begegnet waren, allen voran Charlotte von Kalb. In Linda setzte er sich mit diesen Frauen auseinander. Gott und Menschenliebe legte er als die hohen Maßstäbe an diese Gestalt an, und sie erwies sich als zu klein, trotz aller funkelnden Pracht des Geistes und Körpers. Wie eine Erscheinung heroischer Vorwelt ragt Linda in die Zeit hinein. Selbst Schoppe verfällt dem Zauber ihrer echten Kraft. Es ist nicht allein der ränkevolle Betrug Roquairols, an dem Linda zugrunde geht. Ihr Fall ist tief in ihrem Wesen verankert. Den menschlichen und göttlichen Satzungen glaubt sie trotzen zu können. Nur in freier Liebe will sie sich dem Geliebten hingeben. Damit hat sie die Gefahr der ruchlosen Täuschung heraufbeschworen. Wir entsinnen uns des Briefes, den Charlotte von Kalb im Oktober 1798 an Jean Paul schrieb: »Liebe bedarf keines Gesetzes, die Natur will, daß wir Mütter werden sollen.« Es war das erstemal gewesen, daß die Stimme des entfesselten Weibes an Jean Pauls Ohr drang. »Ich sage mit Goethe, und mehr als Goethe,« hatte die Titanide ihm damals geschrieben, »unter Millionen ist nicht Einer, der nicht in der Umarmung die Braut bestiehlt.« Dieser Brief war Lindas Geburtsstunde gewesen. Mochte die Freiheitsgeste der Frau noch so erhaben sein, irgendwie rüttelte sie an den Grundmauern des Ewigbestehenden.
Zu den Einkräftigen gehört auch Liane. Gerade in Gestalten wie Liane glaubte man das eigentliche weibliche Ideal des Dichters zu erkennen. Aber Jean Paul erhebt sich weit über den Horizont des sentimentalen Romans. Nicht nur, daß eine Gestalt wie Liane in solcher Zartheit und Transparenz der Farben ohne Vergleich in der Literatur dasteht, sondern auch sie ist ein Bild, wenn auch das rührendste und magisch schönste, das er warnend der Zeit vorhält. Auch hier berührt er eine Seite der Romantik: die in Novalis verkörperte. Wie sich Novalis dem Leben langsam abtötete, um seiner Braut Sophie von Kühn nachzusterben, wie sich nach ihm die Nazarener der Wirklichkeit entschlugen, so lebt auch schon Liane diese Liebe des Todes. Nicht nur ihr zarter Körper
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