Saemtliche Werke von Jean Paul
das »Leben Fibels« einen Höhepunkt im Schaffen Jean Pauls. Auch hier herrscht reiner Humor, aber er ist nicht nach der Seite der kalten und unromantischen Vollendung hin ausgeschliffen, sondern hier triumphiert noch einmal hinter allem Grotesken der Darstellung die Poesie des Herzens. In gewissem Sinne beschreibt Jean Paul in Fibel sein eigenes Leben mit allen Hoffnungen, Besessenheiten und Schmerzen. Wenn er hier den grotesken Anschein erweckt, den Verfasser einer Schulfibel ganz ernst zu nehmen und dessen dichterisches Produkt, eine Reihe von Abc-Versen, als Lebenswerk eines großen Dichters auffaßt, so war er sich wohl des humoristischen Widerspruchs in sich vollkommen bewußt, und dennoch liegt dieser Einstellung etwas Wahres zugrunde. Kommt es nicht letzten Endes doch nur auf die Summe angewandter Energie an? Ist es im Grunde nicht bedeutungslos, ob ein Lebenswerk sich in Form einer Fibel oder von sechzig und mehr Bänden darstellt? Ja kann man in dem großen Haushaltsplan der Ewigkeit überhaupt von bestehenden Werten sprechen? Immer haben wir das leise Gefühl, daß Jean Paul selbst seiner eigenen Dichtung hier bitter-skeptisch gegenübersteht. Das »Leben Fibels« wird auch für ihn und sein Werk gewissermaßen zu einer Bilanz. Was bleibt am Ende? Nicht das Werk, ist die Antwort, die bittere und lösende Antwort zugleich, sondern das Hinauswachsen über die engen Formen der menschlichen Gesellschaft, das Wiedereingehen in das Blühen und Sein der Tiere und Pflanzen. Diese ganze Lebenskurve, von den Blütentagen der Kindheit bis zum Verdämmern des Greisentums, wird hier durchschritten. Ein grotesker Einfall gibt diesem Leben die Form, Höhepunkt und Abklingen. Aber ist der Einfall, eine Fibel zu verfassen, wirklich so verschieden von dem Gedanken, einige sechzig Bände Papier vollzuschreiben? In tiefer Nachdenklichkeit über die wahren Werte des Lebens läßt uns die Dichtung zurück.
Aber noch nach einer andern Seite hin ist die Satire gewandt. Jean Paul gibt seiner Dichtung die Form einer überschwenglichen Dichterbiographie. Wie das Zerrbild eines Philologen geht er vor, dem nichts an seinem darzustellenden Gegenstand zu unwichtig ist. Die kleinsten Züge werden ausgewertet, um aus ihnen wichtige Wesenszüge des Dichters abzuleiten. Wieder steht hier die aufgewandte Mühe mit dem kümmerlichen Erreichten in einem komischen Kontrast. Es ist ungemein reizvoll zu lesen, wie Jean Paul, von den scheußlichsten Fibelversen aufs tiefste beeindruckt, sich auf die Suche nach dem Verfasser dieser Verse begibt, wie er schließlich in einem Dorf auf allerhand Spuren stößt, die auf den Verfasser der Bienrodischen Fibel hindeuten. Wie er erst dadurch in die Irre geleitet wird, daß er eine Reihe uralter Bücher findet, die den Verfassernamen Fibel tragen, bis sich schließlich das Rätsel löst: Fibel war vom literarischen Ehrgeiz gepackt und hatte allen Büchern, die er irgendwo auftrieb, seinen Namen als Autornamen vorgedruckt. Endlich ergeben sich genaue Anhaltspunkte. Auf Haubenmustern, Leibchen, Tüten, Zwirnwicklern, Papierdrachen, Patronen finden sich die Reste einer eingehenden Biographie Fibels, und Jean Paul kann die Geschichte niederschreiben, während Gänsejungen, alte Weiber, zufällige Funde ihm noch immer neuen Stoff zutragen.
Im einsamen Walde wird der künftige Autor geboren, und zwar kommt er erst im zehnten Monat zur Welt, schon durch die verspätete Ankunft ungeheure Erwartungen weckend. Sein Vater ist ein alter Invalide und Vogelsteller, ganz mit dem Walde und seinem Getier verwachsen. Kein bequemer Ehemann, barsch und schweigsam, immer alles finster in sich herumtragend. In der Mutter Engeltrut hat Jean Paul noch einmal die eigene Mutter gezeichnet. Ein hilfloses Weib, beschränkt, ungebildet, aber von einer rührenden Liebe zu dem Sohn. Selige Kindheitserinnerungen sind in die Kindheit des Helden eingeflochten. Der Sommer mit seinen Freuden, der Winter mit seiner erhabenen Stille. »Das Erdenstockwerk hat ein Zimmer und einen Stallfußboden, und Mauern sind mit Sang- und Girrvögeln bedeckt und behangen – ein ganzer Frühling schreiet durcheinander.« Alle Stimmen des Waldes bietet Jean Paul auf. Er kennt alle Laute der Vögel und führt sie uns vor in einer minutiösen Kenntnis der Einzelheiten, die er aus seiner Kinderzeit hinübergerettet hat.
Die schönsten Zeiten sind die, wenn der Vater Siegwart, wie er es von Zeit zu Zeit liebt, wochenlange Fahrten unternimmt, von denen niemand
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