Säule Der Welten: Roman
werben wie zu seiner Zeit. Man denke nur an diesen entsetzlichen Bombenangriff vor einigen Tagen.
Die Erinnerung daran riss Garth aus seinen sentimentalen Betrachtungen. Er kniff entschlossen die Lippen zusammen, vergrub die Hände tief in seinen Manteltaschen, mied die Blicke der wenigen Frauen auf dem Gehsteig und setzte seinen Weg fort. Seine schmerzenden Füße trugen ihn über unzählige Stufen nach oben, und schließlich protestierten auch seine Knie und seine Hüften. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte er die Treppen noch im Laufschritt genommen.
Etwa hundert Meter über Hammerlongs behördlich genehmigtem Straßenniveau hatte jemand in der sorgenfreien Zeit der Rekonstruktionisten zwischen zwei Gebäuden eine Brücke geschlagen. Vor der Epoche der Konservationisten, ja, bevor alle großen Nationen in Paranoia und Engstirnigkeit versunken waren, hatten da oben Kunst und Kultur geblüht.
Die Brücke war zwei Stockwerke hoch und hatte eine Bleiglasfassade, in der sich Candesces Licht spiegelte. Von den Eigentümern der beiden Türme wurde sie
nicht benützt; die Schmiede auf der einen Seite konnten mit den Papiermachern auf der anderen wenig anfangen. Dafür waren die hohen sonnigen Räume über der Straße jahrzehntelang von Avantgarde-Künstlern und ihren Verehrern - zumeist Agitatoren und Revolutionären - besetzt gewesen.
Garth schlug das Herz bis zum Hals, als er die letzten Sprossen einer Feuerleiter in der Mitte des Bogens emporkletterte. Neben der schmiedeeisernen Tür mit den vielen Schnörkeln blieb er stehen, um zu Atem zu kommen. Dahinter spielte ein kratzendes Grammophon. Endlich klopfte er.
Das Grammophon verstummte. Er hörte hastige Schritte und gedämpfte Stimmen. Dann wurde die Tür einen kleinen Spaltbreit geöffnet. »Ja?«, fragte ein Mann schroff.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Garth mit breitem Lächeln. »Ich suche jemanden.«
»Hier ist er bestimmt nicht.« Die Tür wollte sich schließen.
Garth lachte schallend. »Ich bin nicht von der Geheimpolizei, du Grünschnabel. Ich habe früher hier gewohnt.«
Die Tür hielt inne. »Dieses Gitter habe ich vor … ach, etwa zwanzig Jahren gestrichen«, sagte Garth und fuhr mit den Fingern die Bögen nach. »Es war am Durchrosten, genau wie das im hinteren Badezimmer. Klopfen die Rohre immer noch, wenn man das Wasser laufen lässt?«
»Was wollen Sie?« Die Stimme klang nicht mehr ganz so abweisend.
Garth nahm die Hand von dem Schmiedeeisen, das so viele Erinnerungen wachrief. Nur mit Mühe fand er
in die Gegenwart zurück. »Ich weiß, dass sie nicht mehr hier wohnt«, sagte er. »Es ist zu lange her. Aber ich musste irgendwo anfangen, und hier waren wir das letzte Mal zusammen. Ich nehme an, Sie kennen … niemanden von den früheren Bewohnern?«
»Augenblick mal.« Die Tür wurde geschlossen, nur um gleich wieder weit geöffnet zu werden. »Kommen Sie rein.« Garth trat in den sonnigen Raum, und sofort überwältigte ihn die Vergangenheit.
Die Planken des Fabrikbodens hatten sich wunderbar zum Tanzen geeignet. In diesem Parallelogramm aus Sonnenlicht hatte er seine Schritte gemacht - damals hatte allerdings gleich daneben ein Tisch gestanden, an dem er sich jedes Mal die Hüfte gestoßen hatte -, während sie zum Grammophon sang. Dasselbe Grammophon stand jetzt auf einem Fensterbrett und wurde von zwei Orangenbäumen in Blumentöpfen bewacht. Sein Blick verfing sich in einem Mobile aus Kerzen und Draht, das sich langsam im staubigen Sonnenlicht drehte. Dahinter befand sich der Hängeboden, wo er jahrelang geschlafen und geliebt und auf seiner Harfe gespielt hatte …
»Wen suchen Sie denn?« Eine junge Frau mit kurzgeschnittenem schwarzen Haar stand vor ihm. Sie trug Männerkleidung und hielt eine Tätowiernadel zwischen den Fingern. Hinter ihr saß eine zweite Frau mit entblößter, blutender Schulter an einem Tisch.
Garth holte tief Luft und sprach zum ersten Mal seit zwanzig Jahren den Namen laut aus. »Sie heißt Selene. Selene Diamandis …«
12
Spyre beeindruckte noch aus einer Entfernung von zwanzig Kilometern. Venera hielt sich an den Netzen in einer Hecktür des Passagierfliegers Prachtvoller Morgen fest und sah zu, wie der riesige bläuliche Kreis in der Ferne verschwand. Zuerst raste eine Wolke vorbei und verdeckte einen Quadranten ihres Blickfelds, dann rotierte eine ganze Gruppe langsam im Luftstrom des Schiffes. Die Wolken zerhackten Spyres Bild zu einzelnen Bruchstücken: hier eine
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