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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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praktizieren Sie, Dr. Delaware? Kinder sind außerhalb unseres Fachgebiets, also haben wir des öfteren Gelegenheit, Überweisungen vorzunehmen.«
    »Ich bin auf der Westside, aber ich mache keine Therapie mehr, nur noch forensische Arbeit, kurzzeitige Konsultationen.«
    »Aha, in der Mitteilung, die ich erhielt, hieß es, Sie seien jemandes Therapeut.«
    »Melissa Dickinsons - ich war ihr Therapeut vor Jahren. Ich stehe meinen ehemaligen Patienten weiterhin zur Verfügung. Sie ist vor kurzem wieder zu mir gekommen.«
    »Melissa«, sagte sie, »so eine ernste junge Dame.«
    »Sie hat eine Menge Gründe, ernst zu sein.«
    »Ja, natürlich. Ihr Familienbewußtsein ist tief verwurzelt. Ich bin froh, daß sie sich endlich um Hilfe bemüht.«
    »Ihre Hauptsorge scheint ihrer Mutter zu gelten«, sagte ich. »Es geht um die Trennung von ihr - wie ihre Mutter damit fertig wird, wenn sie nach Harvard geht.«
    »Ihre Mutter ist sehr stolz auf sie, und daß sie nach Boston geht.«
    »Ja, Melissa hat mir das gesagt. Aber sie macht sich trotzdem Sorgen.«
    »Zweifellos«, sagte sie, »aber in diesem Fall sorgt sich Melissa unnötig.«
    »Also besteht keine Gefahr, daß ihre Mutter einen Rückfall erleidet, wenn Melissa fortgeht?«
    »Kaum, Dr. Delaware. Nein, ich bin sicher, daß Gina -Mrs. Ramp - sich ihrer neu gewonnenen Freiheit erfreuen würde. Melissa ist ein kluges Mädchen und eine hingebungsvolle Tochter, aber ist ein wenig klettenhaft.«
    »Ist das ein Ausdruck ihrer Mutter?«
    »Nein, Mrs. Ramp würde es nie so ausdrücken. Aber sie empfindet es so. Deshalb hoffe ich, daß es Ihnen gelingen wird, Melissas Unschlüssigkeit radikal zu beseitigen und daß sie so schnell wie möglich den Absprung schafft. Soweit ich weiß, gibt es da einen Termin zu beachten: Harvard ist immer etwas ungeduldig - ich weiß es aus eigener Erfahrung. Also wird sie sich festlegen müssen. Es wäre ein Jammer, wenn eine Formalität diesen Fortschritt vereiteln würde.«
    Ich dachte an McCloskey und fragte: »Hat Mrs. Ramp irgendwelche anderen Sorgen, die sie auf Melissa übertragen könnte?«
    »Ubertragen? Wie bei einer emotionalen Ansteckung? Nein, ich würde sagen, es ist genau umgekehrt - es besteht die Gefahr, daß Melissas Angst sich auf ihre Mutter überträgt. Mrs. Ramp stellte für uns einen der schwersten phobischen Fälle dar, die wir je behandelt haben, und wir haben viele behandelt. Aber sie hat außerordentliche Fortschritte gemacht, und das wird sie auch weiterhin tun, wenn sie dazu Gelegenheit hat.«
    »Wollen Sie damit sagen, daß Melissa ihren Fortschritt hemmt?«
    »Melissa meint es gut, Dr. Delaware, ich kann ihre Sorge gewiß verstehen. Daß sie mit einer ineffektiven Mutter aufgewachsen ist, hat ihren Reifeprozeß beschleunigt. Auf einer gewissen Ebene war das wünschenswert, aber die Dinge verändern sich, und zu diesem Zeitpunkt dient ihr ständiges Umsorgen nur dazu, das Selbstvertrauen ihrer Mutter zu reduzieren.«
    »Wieso ist sie so besorgt?«
    »Sie neigt dazu, sich während entscheidender therapeutischer Augenblicke als unentbehrlich aufzuspielen.«
    »Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich Sie verstehe.«
    »Okay«, sagte sie, »ich werde es Ihnen erklären. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, muß die Behandlung der Agoraphobie in vivo, das heißt in der realen Welt, stattfinden, wo die angsthervorrufenden Stimuli vorkommen. Ihre Mutter und ich unternehmen buchstäblich ›Schritte‹ miteinander: aus dem Eingangstor hinaus, um den Block. Es ist ein langsamer, stufenweiser, aber stetiger Prozeß, so daß die Patientin so wenig Angst als möglich erfährt. Melissa taucht oft gerade in den entscheidenden Augenblicken auf und beobachtet uns, mit über der Brust verschränkten Armen und diesem überaus skeptischen Gesichtsausdruck. Es ist manchmal geradezu lächerlich, aber natürlich lenkt es ab. Ich habe schließlich sogar unsere wichtigen Übungen auf Zeiten verlegt, in denen sie nicht zu Haus war, so daß wir unsere Durchbrüche erzielten, während sie in der Schule weilte. Nun hat sie die Schule aber beendet und - stört uns noch mehr als zuvor.«
    »Haben Sie schon mal mit ihr darüber geredet?«
    »Ich habe es versucht, Dr. Delaware, aber Melissa zeigt sich an einem Gespräch mit mir nicht interessiert.«
    »Komisch«, sagte ich, »sie sieht es anders.«
    »Oh?«
    »Sie meint, sie versuche Informationen von Ihnen zu bekommen und Sie wiesen sie zurück.«
    Schweigen. Dann: »Ja, sie sieht es sicher so. Aber das

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