SÄURE
kurzen Ärmeln, standen sie wie zur Parade aufgereiht da und sahen sich schüchtern wegen der unerwarteten Einladung oder wegen der Dimensionen des Hauses um. Ich fragte mich, wie oft sie es in all den Jahren wohl betreten haben mochten.
Wir versammelten uns im vorderen Saal. Milo stand da, Notizblock und Stift in der Hand, alle anderen saßen auf den Kanten der Sessel mit den zu weichen Polstern. Neun Jahre hatten Hernandez in einen sehr alten Mann verwandelt - weißhaarig, bucklig, er sah zu gebrechlich aus, als daß er noch körperliche Arbeit hätte verrichten können. Seine Söhne waren zu Männern geworden und umgaben ihn wie Stützpfähle einen kranken Baum. Milo stellte ihnen seine Fragen.
Die einzige neue Erkenntnis brachte eine Aussage zweier Hernandez-Söhne. Sie hatten zu der Zeit im Garten vor dem Haus gearbeitet, als Gina Ramp weggefahren war. Einer von ihnen, Guillermo, hatte gerade einen Baum in der Nähe der Einfahrt beschnitten, als sie vorbeifuhr. Er hatte sie deutlich erkannt, weil er rechts von dem Rolls-Royce gestanden hatte und weil das getönte Fenster heruntergerollt gewesen war.
Die Senora hatte ernst ausgesehen, sie war sehr langsam gefahren. Und da sie ihn nicht bemerkt hatte, hatte er sie nicht gegrüßt. Das war ein bißchen ungewöhnlich, die Senora war gewöhnlich sehr freundlich. Nein, sie hatte weder verängstigt noch verärgert ausgesehen, auch nicht wütend, anders - er suchte das englische Wort, sprach mit seinen Brüdern. Hernandez blickte geradeaus, schien an dem ganzen Vorgang nicht teilzunehmen.
»Nachdenklich«, sagte Guillermo, »sie hatte ausgesehen, als ob sie an etwas gedacht hätte.«
»Keine Ahnung, woran?« fragte Milo.
Guillermo schüttelte den Kopf.
Milo stellte allen diese Frage.
Leere Gesichter. Eines der hispanischen Mädchen fing wieder an zu weinen. Madeleine stieß sie an und starrte stur geradeaus.
Milo fragte die Französin, ob sie etwas hinzuzufügen hätte.
Sie sagte, Madame sei ein wunderbarer Mensch. - Nein, sie hätte keine Ahnung, weshalb Madame weggefahren sei! -Nein, Madame hätte nichts außer ihrer Handtasche mitgenommen, ihre kleine schwarze Judith-Leiber-Tasche, die einzige, die sie besaß. Madame mochte nicht viele Sachen, aber die, die sie hatte, waren erstklassig - Madame hatte einen sehr guten Geschmack.
Noch mehr Tränen von Lupe und Rebecca. Überall ratlose Blicke. Ramp starrte seine Fingerknöchel an. Sogar Melissa schien zu erschöpft zum Kämpfen.
Milo faßte vorsichtig nach, bohrte hartnäckiger, tat seine Arbeit so geschickt wie nur möglich. Aber das Ergebnis war gleich null. Man konnte unser aller Hilflosigkeit mit den Händen greifen.
Während Milo seine Fragen stellte, entwickelte sich keinerlei Hackordnung, niemand trat vor, um für die anderen zu sprechen. Früher war das ganz anders gewesen: ›Sieht aus, als ob Jacob ein guter Freund ist. Er kümmert sich um alles.‹
Für Dutchy hatte sich kein Ersatz gefunden. Und jetzt dies - als hätte das Schicksal gegen dieses große Haus zum Schlag ausgeholt, um es langsam, Stück für Stück, zu zertrümmern.
17
Milo entließ das Personal und fragte, ob er irgendwo arbeiten könne.
Ramp antwortete: »Wo Sie wollen.«
Melissa sagte: »Oben im Arbeitszimmer«, und führte uns zu dem fensterlosen Raum mit dem Gemälde von Goya hinauf. Der französische Schreibtisch in dessen Mitte war viel zu klein für Milo. Er nahm dahinter Platz, versuchte es sich bequem zu machen, gab es auf und ließ seine Blicke von der einen, mit Bücherregalen vollgestellten Wand, zur anderen schweifen.
»Hübscher Blick.«
Melissa sagte: »Vater hat es als Arbeitszimmer benutzt. Er hat es ohne Fenster entworfen, um eine maximale Konzentration zu ermöglichen.«
Milo brummte: »Hmhm« und zog Schubladen auf und zu, nahm seinen Notizblock heraus und legte ihn auf den Schreibtisch. »Haben Sie Telefonbücher?«
»Hier«, Melissa öffnete einen Schrank unter dem einen Regal. Sie holte einen Arm voll Telefonbücher heraus und stapelte sie vor Milo auf, bis schließlich der untere Teil seines Gesichts dahinter verschwunden war. »Das schwarze obendrauf ist ein privates Telefonbuch von San Labrador. Sogar Leute, deren Namen nicht in dem öffentlichen stehen, lassen sich da eintragen.«
Milo teilte die Bücher in zwei kleinere Stapel auf. »Fangen wir mit den Kreditkartennummern an.«
»Sie hat alle der großen Gesellschaften«, sagte Ramp, »aber auswendig weiß ich die Nummern nicht.«
»Wo
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