Safa: Die Rettung der kleinen Wüstenblume
erging es uns genauso wie dir jetzt. Aber du wirst nicht glauben, was bei den Dreharbeiten geschah.« Sie blickte mir nun direkt in die Augen. »Während einer Aufnahme hörten wir plötzlich Schreie eines anderen kleinen Kindes. Einige von uns ließen alles stehen und liegen, liefen sofort hin, um nachzusehen, was da los war. Was wir sahen, ließ uns das Blut in den Adern gefrieren.« Fardouza stockte kurz der Atem. »Zwei Frauen trugen ein blutendes Mädchen davon. Als sie uns bemerkten, fingen sie mit der Kleinen an zu rennen. Noch bevor wir etwas tun konnten, waren sie mit dem Mädchen über alle Berge. Die Felsen, der Boden … alles war voll Blut.«
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Dieser Platz hier war ein Ort der Finsternis, der Verzweiflung, der Qualen und der Hoffnungslosigkeit. Wie viele kleine Mädchen hatte man hier schon gefoltert, für immer zerstört? Wie viele mussten an den Folgen dieses Irrsinns sterben? An Blutverlust, Blutvergiftungen oder schlichtweg an dem Schock.
Meine Mutter hatte immer zu mir gesagt, dass unser Gott mich liebte. Nachdem ich verstümmelt worden war, sagte sie, Gott habe dies so gewollt.
Ich antwortete ihr: »Gott kann mich nicht lieben, er muss mich hassen, sonst hätte er so etwas nie zugelassen.«
Meine Mutter wurde damals sehr böse und lief davon.
Ich sprach zu Gott: »Du hast zugelassen, dass mir so etwas Schreckliches angetan wird. Nun schuldest du mir etwas. Wenn es dich gibt, dann lass mich überleben!«
Ich versuchte den Gedanken abzuschütteln und mich abzulenken. »Wie weit ist es noch bis zu unseren Kindern?«, fragte ich daher Hussein, der meinte, wir seien in gut einer Stunde da.
Kurz darauf passierten wir einige große, steinige Hügel. Das schwarze Lavagestein tauchte die Landschaft in tiefes Grau. Es war inzwischen brütend heiß, im Auto stand die Luft. In dieser staubigen, dunklen, stickigen Gegend wuchsen also der kleine Idriss und seine Schwestern auf.
Wir fuhren eine enge, schlecht befestigte Bergstraße hinauf. Oben auf der Anhöhe stand eine verrostete Ortstafel, auf der in verblasster arabischer und darunter in lateinischer Schrift » ALI SABIEH « stand.
Ali Sabieh ist einer von elf Bezirken Dschibutis. Hier, am Dreiländereck zwischen Somalia, Äthiopien und Dschibuti leben rund neunzigtausend Menschen in bitterer Armut. Die Mehrheit von ihnen sind Nomaden. Arbeitsplätze gibt es so gut wie keine, die meisten verdienen sich ein wenig Geld mit dem Handel unterschiedlichster Waren. Wem es hier gelingt, einen Job als Wachmann zu ergattern, der hat das größte Karriereziel erreicht.
Der Vater von Inab und Idriss zählte zu den wenigen Glücklichen, bis er eines Tages aufgrund einer Augenerkrankung seinen Job verlor. Eine Katastrophe für die Familie, die mit dem Einkommen von rund zwanzigtausend Dschibuti-Francs, umgerechnet etwa achtzig Euro, halbwegs gut gelebt hatte. »Ohne die Unterstützung der Desert Flower Foundation wären wir verhungert, nachdem sie Papa gefeuert hatten«, hatte Inab einer unserer Mitarbeiterinnen einmal erzählt. Und sie hatte wohl recht.
Als Inab vierzehn Jahre alt war, ließ ihre Mutter ihren Ehemann mit den vier Kindern im Stich. Einfach so und für Außenstehende ohne ersichtlichen Grund. Von einem Tag auf den anderen musste Inab, die Älteste, den Haushalt der Familie in Ali Sabieh führen. Sie kümmerte sich rührend um ihre kleinen Schwestern Hibo und Hamda sowie um ihren Bruder Idriss. Tagtäglich stand sie um fünf Uhr morgens auf, bereitete das Frühstück für die gesamte Familie zu, putzte die Hütte und zog ihre kleinen Schwestern an, um sie zur Schule zu bringen. Danach trat sie den über einstündigen Fußmarsch zu ihrer eigenen Schule an.
Die Verantwortung musste für das Mädchen, das zwar beschnitten, jedoch unverheiratet war, eine große Belastung gewesen sein. Doch Inab meisterte die Aufgaben, die ihr das Schicksal gestellt hatte, mit Bravour – in der Hoffnung, eines Tages die Chance auf ein besseres Leben zu haben. Sie schrieb nicht nur gute Noten, sondern beschützte ihre beiden Schwestern mit ihrem Leben. Ihr war es wohl zu verdanken, dass Hibo und Hamda bisher der Genitalverstümmelung entgangen waren.
Als wir an der Hütte der Familie ankamen, erkannte ich schon von weitem Inabs Schwestern Hamda und Hibo, die auf einem alten kaputten Autoreifen saßen und spielten. Mit Steinen zeichneten sie Muster in den staubigen Boden.
»Inab, Idriss«, riefen sie aufgeregt, als sie
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