Sag, dass du eine von ihnen bist
antun, die er heraufbeschworen hat? Sogar Tonton André wurde von ihm verhext. Jean hat überall Gänsehaut. Ich fürchte mich zu sehr, um unser Zimmer aufzuräumen. Wir verkriechen uns in eine Ecke, legen uns auf die Matratze, die man auf den Boden geworfen hat. Ich beginne zu beten.
Als ich wach werde, höre ich meine Eltern mit Leuten im Wohnzimmer reden. Sie machen einen Heidenlärm. Es ist noch nicht hell, und mein ganzer Körper tut mir weh. Eine Hälfte meiner Oberlippe ist geschwollen, als klebte ein Bonbon zwischen ihr und dem Zahnfleisch. Ich kann Jean nicht sehen.
Ich humple ins Wohnzimmer, sehe aber nur meine Eltern und Jean. Vielleicht habe ich die anderen Stimmen bloß geträumt. Meine Eltern verstummen bei meinem Anblick. Maman sitzt auf dem Sofa wie eine Marienstatue, Mère des Douleurs , der Blick gesenkt. Papa steht neben dem Altar, hält Jean im Arm und füttert ihn löffelweise mit warmem Haferbrei. Jeans Augen sind matt und wässrig, so als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Er schüttelt den Kopf, schreit und stößt das Essen fort. »Iss, Kind, iss auf«, sagt Papa ungeduldig. »Du brauchst Kraft.«
An diesem Sonntagmorgen geht meine Familie nicht zur
Messe. Im Wohnzimmer brennt kein Licht, die Möbel liegen vom gestrigen Abend noch wild durcheinander. Wie schon seit Freitag sind Türen und Fenster geschlossen; inzwischen wurde aber der Esstisch vor die Eingangstür geschoben. Unser Haus kommt mir wie ein Spukhaus vor, so, als wären die Geister, die der Zauberer mit seinem Stock heraufbeschworen hat, noch immer hier.
Ich laufe zu meinem Vater. »Guten Morgen, Papa!«
»Pssst … ja, ja, guten Morgen«, flüstert er, setzt Jean auf den Boden, hockt sich hin und nimmt meine Hände. »Kein Lärm. Hab keine Angst. Ich lass nicht zu, dass dich noch mal jemand anfasst, okay?«
» Yego , Papa.«
Ich will ihn umarmen, aber er wehrt mich ab. »Mach kein Licht, und lass Maman jetzt in Ruhe.«
»Der Zauberer hat gesagt, die Geister …«
»Hier gibt es keine Geister … Hör zu, heute gehen wir nicht zur Messe. Le Père Mertens hat letzte Woche Urlaub genommen und ist heimgefahren.« Er sieht mich nicht an, sondern schaut aus dem Fenster.
Ich höre ein Niesen in der Küche, unterdrückt, wie das einer kranken Katze. Fragend blicke ich meine Eltern an, doch ihre Mienen bleiben ausdruckslos. Eine plötzliche Angst überkommt mich. Vielleicht träume ich noch, vielleicht auch nicht. Ich rücke näher an Papa heran und frage ihn: »Ist Tonton André jetzt ein Freund vom Zauberer?«
»Erwähne Andrés Namen nie wieder in meinem Haus.«
»Er hat einen Mann mitgebracht, der hat mir die Unterhose runtergezogen.«
»Ich hab doch gesagt: Lass mich in Ruhe!«
Er tritt ans Fenster und hält sich an den Gitterstäben fest; seine Hände sind ruhig, aber er zittert am ganzen Leib. Die Augen blinzeln heftig, das Gesicht ist angespannt. Wenn Papa so still wird, dann ist er bereit, sich auf jeden zu stürzen.
Stumm gehe ich zum Sofa und setze mich. Als ich zu Maman rutschen will, schubst sie mich mit einer Hand fort. Ich widersetze mich, biege mich wie ein Baum im Wind, dann rücke ich zurück auf meinen Platz. Maman interessiert sich heute für gar nichts, nicht einmal für Jean, ihr Lieblingskind. Sie sagt ihm nichts Nettes, fasst ihn nicht mal an. Sie wirkt wie betäubt, verhext, wie eine Ziege, die von den Nachbarkindern mit Hirsebier abgefüllt wurde.
Am Fenster dreht Papa sich um und schaut mich an, als wäre ich nicht mehr seine liebe Shenge. Kaum sieht er Jean vor Maman auf dem Teppich schlafen, gibt er mir die Schuld: »Dummes Mädchen, hast du keine Augen im Kopf? Siehst du nicht, dass dein Bruder ins Bett gehört? Bring ihn ins Schlafzimmer und stör nicht länger mein Leben.«
Doch ich schleiche um das Wohnzimmer wie eine Ameise, deren Eingangsloch verstopft wurde. Wegen der Geister fürchte ich mich zu sehr, um auf mein Zimmer zu gehen. Papa macht das Licht an. Unser Spielzeug liegt auf dem Boden verstreut. Er zerrt die Matratze zurück aufs Bett und räumt auf. Trotzdem sieht es noch immer chaotisch aus. Papa schimpft über das Spielzeug, macht die Geschenke kaputt, die sie uns aus Amerika mitgebracht haben. Er kickt den Teddy an die Wand, tritt auf Tweety und auf Mickey Mouse. Papas Hände sind dreckig, die Rillen um die Nägel starren vor Dreck. Als er merkt, dass ich ihn ansehe, schnauzt er: »Was glotzt du so?«
»Tut mir leid, Papa.«
»Ich hab doch gesagt, du sollst kein Licht
Weitere Kostenlose Bücher