Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
zurücktritt und der Pöbel regiert. So wie in der Nacht von Augies Tod. Oder im Sommer während der Krawalle in London.
Ungeachtet des Wie und Warum ist die Psychologie des Phänomens immer die gleiche. Die Menge garantiert Anonymität, enthebt der Verantwortung, schwächt das Ich-Gefühl. Die Leute verlieren nicht ihre Identität – sie gewinnen eine neue hinzu. Sie vereinen sich gegen einen gemeinsamen Feind, eingebildet oder real, und werden zu einem Stamm.
Sieben Männer haben ein minderjähriges Mädchen festgehalten und belästigt. Kollektiv rechtfertigten sie etwas, was sie einzeln nie erwogen, geschweige denn ausgeführt hätten. Sie schlugen sie, zwangen sie zu tanzen, behandelten sie wie ein Tier im Zirkus und nicht wie ein menschliches Wesen.
Wenn ich einige dieser Männer unter anderen Umständen kennengelernt hätte, hätte ich vielleicht trotzdem anständige, fleißige, gesetzestreue Mitbürger gesehen. Männer, die ihre Kinder lieben, ihrer Frau treu und nett zu Tieren sind. Ich versuche nicht, ihr Verhalten zu entschuldigen; ich versuche, es zu erklären.
Die Aufnahmen von dem Angriff hatten einen Timecode. Die Kamera stoppte um 23.17 Uhr. Piper Hadley tauchte kurz vor Mitternacht bei Emily auf. Sie hätte zur Polizei gehen können, doch das tat sie nicht. Vielleicht hatte sie Angst. Als Natasha beim letzten Mal als Zeugin vor Gericht auftreten musste, wurde sie wie eine Angeklagte behandelt und Piper auf eine Schule für Problem-Teenager geschickt.
Die Mädchen haben nicht bei Natasha geschlafen, und Mrs McBain hat sie an dem Morgen nicht geweckt. Wohin sind sie dann gegangen? Höchstwahrscheinlich war der Entführer einer der Männer, die sie zuvor festgehalten und attackiert hatten. Er ist hinterher noch mal zurückgekommen oder hat den richtigen Augenblick abgepasst und die Mädchen abgefangen.
Mr Creighton wird ungeduldig. Ich folge ihm am Becken entlang zu einer Seitentür, hinter der der Wind welkes Laub aufgetürmt hat. Die Luft ist kalt und klar und riecht nach Holzrauch und feuchtem Lehm.
Mein Handy vibriert an meinem Herzen. Es ist eine SMS von Dr. Leece im Krankenhaus. Er will mich sehen.
Die Jalousien im Büro des Pathologen sind heruntergelassen. Ich klopfe. Eine Stimme fordert mich auf einzutreten. John Leece sitzt zurückgelehnt auf seinem Schreibtischstuhl im Halbdunkeln, ein feuchtes Tuch über den Augen. Eine einzelne Schreibtischlampe wirft einen Lichtkreis auf eine Reihe von Obduktionsfotos, die auf seinem Tisch ausgelegt sind.
»Migräne«, erklärt er, ohne das Tuch wegzunehmen. »Ich bin seit meiner Kindheit damit geschlagen.«
Er macht mir ein Zeichen, Platz zu nehmen.
»Manchmal würde ich mir liebend gern eine Kugel in den Kopf jagen, um die Schmerzen loszuwerden.«
»Wirkt jedenfalls schneller als Aspirin«, sage ich.
»Vor allem dauerhafter.«
Er faltet das Tuch über seinen Augen, taucht seine Finger in ein Glas Wasser und streicht über seine Augenlider. Ich betrachte die Fotos auf seinem Tisch. Eins zeigt Natashas Leiche unter dem Eis, ihr Gesicht ist weichgezeichnet, und ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken gebrochen ist, hat einen Heiligenschein um ihren Kopf gemalt. Sie wirkt beinahe friedlich, als wäre sie in einem Mausoleum aus Eis zur letzten Ruhe gebettet worden.
»Sie wollten mich sprechen.«
»Schon mal was von Tritium gehört?«
»Nein.«
»Es ist ein Wasserstoffatom mit zwei Neutronen im Kern und nur einem Proton. Obwohl es auch gasförmig vorkommt, reagiert es in aller Regel mit H 2 O und bildet sogenanntes überschweres Wasser. Farblos, geruchlos. Es ist nicht besonders gefährlich, gilt jedoch als leicht gesundheitsgefährdend und hat eine Halbwertzeit von 12,3 Jahren. Das Molekül ist so klein, dass es problemlos in den Körper eindringt – über die Atmung, die Nahrungsaufnahme und sogar durch die Haut.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»In Natashas Urin sind Spuren von Tritium aufgetaucht, das heißt sie muss die Moleküle irgendwann zu sich genommen haben, wahrscheinlich in kontaminiertem Wasser. Vielleicht hat sie darin gebadet, oder es wurde ihr zum Trinken gegeben.«
»Radioaktives Wasser?«
»Normalerweise wäre es dreißig Tage nach Aufnahme über ihren Urin wieder ausgeschieden worden, also muss sie im letzten Monat kontaminiert worden sein.«
»Ist es gefährlich?«
»Tritium entsteht auf natürliche Weise in der Stratosphäre, wenn kosmische Strahlen auf Luftmoleküle treffen, fällt jedoch auch bei der Explosion
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