Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
Schokoriegeln mit Rosinen, die keiner mag. Alle verfügbaren Beamten sind zurückgerufen worden. Urlaub gestrichen. Feierlichkeiten auf Eis gelegt.
Die Straßensperren sind die ganze Nacht besetzt geblieben, Pläne für eine umfangreiche Suche am Boden bei Anbruch der Dämmerung werden vorbereitet. Freiwillige, Hunde, Hub schrauber, Wärmebildkameras und Radar sollen zum Einsatz kommen.
Auf einer weißen Tafel im Einsatzraum hat jemand geschrieben: »Piper Hadley kommt nach Hause.« Eine Nachricht von gestern, voreilig, veraltet. Niemand bringt es über sich, sie abzuwischen.
Drury geht den Flur hinunter, als würde er schlafwandeln. Vor dem Kaffeeautomaten bleibt er stehen, drückt auf einen Knopf und lauscht dem röchelnden Husten, mit dem der Kaffee ausgespuckt wird. Das Zeug sieht aus wie Teer.
Er nimmt die versiegelte Plastiktüte der Spurensicherung und betrachtet die kleine Figur des Stationsvorstehers.
»Sind Sie sicher, dass sie Martinez gehört?«
»Ja.«
Er streicht mit dem Daumen über das Plastikmännchen.
»Nicht direkt eine rauchende Waffe.«
»Auf Fingerabdrücke oder DNA -Proben zu warten könnte Tage dauern. So viel Zeit hat Piper nicht.«
Der DCI verzieht das Gesicht. »Wir haben Martinez zur Fahndung ausgeschrieben und Kennzeichen und Fahrzeugtyp seines Wagens herausgegeben.«
»Und wenn Sie sich an die Öffentlichkeit wenden?«
»Vielleicht hat er Emily und Piper. Das ist zu riskant.«
Drury trinkt einen Schluck von seinem Kaffee und spuckt ihn fast wieder aus. Er kippt den Rest ins Waschbecken und zerdrückt den Plastikbecher zwischen den Fingern.
»Schlafen Sie mit Victoria Naparstek?«
»Was?«
»Sie haben mich verstanden.«
»Ich denke, das geht Sie nichts …«
»Also: ›Ja‹.« Er wippt auf den Fersen hin und her und spreizt die angespannten Finger an den Hüften. »Ich denke, Sie sollten sie in Ruhe lassen.«
»Wieso?«
»Ich mache mir nur so meine Gedanken.«
»Sie bedeutet Ihnen etwas.«
»Ja.«
»Weiß Ihre Frau davon?«
Er lächelt schmal. »Meine Frau und ich haben eine Übereinkunft. Ich weiß, das klingt wie ein Klischee.«
»Sie führen eine offene Ehe?«
»Wenn Sie es so nennen wollen.«
»Trifft Ihre Frau andere Männer?«
»Sie könnte.«
Sobald er den Satz gesagt hat, wird ihm bewusst, wie arrogant und unaufrichtig er klingt. Er hebt das Kinn und presst die Lippen aufeinander.
»Sind Sie verheiratet?«
»Meine Frau und ich leben getrennt.«
»Mir ist aufgefallen, dass Sie immer noch Ihren Ehering tragen. Ich nehme an, damit sind wir beide Heuchler, aber nur einer von uns ist ein Schaumschläger.«
Damit lässt er mich stehen und marschiert den Flur hinunter wie ein Soldat in eine Schlacht. Wie kann ein Mann mit so viel Ego und Selbsthass in einem Job mit so wenig Highlights und so vielen Tiefpunkten überleben? Ich mache mir Sorgen, wie er das seelisch verkraftet. Seine Frau tut mir leid.
Um kurz nach vier Uhr morgens weckt Ruiz mich. Ich bin an einem Schreibtisch eingeschlafen, den Kopf auf die Unterarme gelegt. Auf der Unterlage hat sich unter meinem Kinn Speichel gesammelt. Ich richte mich auf, mein Mund ist trocken, ich habe Durst.
»Wenn du schläfst, zuckst du nicht«, sagt Ruiz. »Als ob dein Parkinson sich nachts freinimmt.«
Aber jetzt bewegen sich mein Kopf und meine Arme, zucken und verkrampfen sich in einem sonderbaren Tanz, peinlich, kauzig. Ich nehme zwei Tabletten aus einem kindersicheren Fläschchen, und Ruiz bringt mir ein Glas Wasser aus dem Wasserspender.
»Frohe Weihnachten«, sagt er.
»Gleichfalls, großer Mann.«
Ich warte, dass die Medikamente zu wirken beginnen. Dann bin ich »on«, wie es im Parkinson-Sprech heißt – im Gegensatz zu »off«.
»Wo bist du gewesen?«
»Ich habe Dale Hadley nach Hause gefahren. Schickes Haus. Hübsche Kinder. Die reinste Disney-Familie.«
»Mit einer vermissten Tochter.«
»Schaukeln und Karussells.«
Ruiz hat Neuigkeiten. Phillip Martinez wurde vor zwei Stunden von einer Autobahnpolizeistreife auf der M40 in der Nähe von Stokenchurch aufgegriffen. Er war allein im Wagen.
»Wo ist er jetzt?«
»Unten. Drury will gerade mit der Vernehmung anfangen. Ich dachte, du willst vielleicht zusehen.«
Ich wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Ruiz wartet. Dann nehmen wir den Fahrstuhl nach unten. Phillip Martinez sitzt allein im Vernehmungsraum. Er blickt an die Decke wie ein Mann, der in einem tiefen Brunnen gefangen ist und über sich ein Stück blauen Himmel sieht.
Müde
Weitere Kostenlose Bücher