Sag mir, wo die Mädchen sind
der Espooer Polizei anrufen, die wird Sie zu mir durchstellen. Außerdem möchte ich nicht über Samir sprechen, sondern über Sara. Haben Sie sie nach Bosnien zurückgeschickt, weil ihr Bruder sie belästigt hat?»
Am anderen Ende wurde es still, und als die Frau endlich antwortete, klang ihr Englisch undeutlicher als zuvor. «Ich verstehe nicht, was Sie meinen.»
«Hat Samir seine Schwester sexuell belästigt? Hat er sich an Sara vergangen?»
Die Frau schwieg.
«Hat Sara die Pille genommen, um nicht von ihrem eigenen Bruder schwanger zu werden? Ist sie auch von Samir vergewaltigt worden?»
«Nein! Samir ist krank, sehr krank. Man darf ihn nicht nach Bosnien zurückschicken. Sein Zustand hat sich sehr verschlechtert, das wissen Sie ja wohl. Er erkennt nicht einmal seine eigene Mutter.»
«Hat Samir als Sechsjähriger in Srebrenica Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt mit angesehen? Wir brauchen Ihre Hilfe, weil wir nicht mit ihm sprechen können.»
«Er ist mein Sohn, und man darf ihn nicht ausweisen! Er kann nicht nach Bosnien zurück. Er hat zu viel gesehen, Dinge, die kein Kind sehen sollte. Ich kann darüber nicht sprechen. Er hat gesehen, wie seine Schwester und seine Tante gestorben sind, er hat …» Mira Amir verstummte und legte auf.
Ich saß an meinem Schreibtisch und atmete tief durch. Während meiner Laufbahn bei der Polizei war ich Dutzenden vergewaltigter Frauen begegnet, von blutjungen Mädchen bis zu Achtzigjährigen. Das älteste Opfer, mit dem ich es zu tun gehabt hatte, war eine Frau, die einige Monate später ihren neunzigsten Geburtstag feiern sollte. Sie lebte allein in einem abgelegenen Haus und war zwei etwa zwanzigjährigen Einbrechern zum Opfer gefallen. Der eine hatte sie schließlich vergewaltigt, weil sie sich nicht einschüchtern ließ, sondern drohte, die Polizei anzurufen. Bei der Festnahme hatten die Burschen in ihrem Wagen gesessen und die Kognakflasche geleert, die sie der alten Frau entwendet hatten. Beide saßen vermutlich immer noch im Knast, denn der Einbruch war der sechste in einer ganzen Serie gewesen. Nie zuvor hatte ich das Opfer einer Vergewaltigung fragen müssen, wie es den Täter zu seiner Tat provoziert hatte. Genau das würde ich nun tun müssen, und allein wegen all der vergewaltigten Frauen, denen ich bisher begegnet war, verspürte ich deswegen beinahe Hass auf Heini Korhonen.
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20
I st es wirklich vernünftig, Heini Korhonen so etwas auf den Kopf zuzusagen? Was passiert ist, lässt sich nicht mehr ändern. Wie sollen wir beweisen, dass sie Samir Amir provoziert hat? Wir haben einfach keinen Beweis dafür. Sie hat Aisha belogen, aber das ist kein Verbrechen. Du darfst nicht zulassen, dass deine persönliche Erfahrung dein Urteilsvermögen trübt, Maria.»
Ich wusste, dass Koivu recht hatte. Die riesige Portion Lasagne hatte meine Gefühle zudem ein wenig gedämpft. Dennoch wollte ich mit Heini sprechen. Ich hatte Koivu gebeten, mich zu begleiten, sobald wir wussten, wo sie sich aufhielt. Inzwischen hatten wir bereits die Fahndung nach Ayan Ali Jussuf intensiviert. Neben den Polizeidienststellen waren Krankenhäuser, Frauenschutzhäuser und Mädchenasyle in ganz Skandinavien alarmiert worden. Irgendwo musste die junge Frau sich doch aufhalten. Sie hatte kein eigenes Konto und keine Kreditkarte, und Aisha wusste nicht, ob die achthundert Euro, die sie für den Schmuck bekommen hatte, Ayans einziges Geld waren. Die Summe reichte nicht für zwei Monate, falls Ayan für ihre Unterkunft bezahlen musste. Asylheime waren nicht verpflichtet, ihre Klientinnen der Polizei zu melden. Vielleicht hatte Ayan ausdrücklich verboten, ihren Aufenthaltsort zu verraten. Ich hatte der Fahndung noch hinzugefügt, dass die falsche Information, die Ayans Familie erhalten hatte, korrigiert werden konnte. So viel war Heini Ayan wenigstens schuldig.
Ich erreichte Heini Korhonen am Handy.
«Guten Tag, Heini. Wie geht es dir?»
«Ich versuche zu arbeiten. Heute habe ich eine Besprechung mit Sylvia, und am Abend tagt der Vorstand des Trägervereins.» Sie sprach wie ein Roboter, emotionslos. Spielte sie mir etwas vor?
«Wann triffst du dich mit Sylvia?»
«Um vier. Die Sitzung ist um sechs.»
«Dann hast du ja noch Zeit, mit mir und Hauptmeister Koivu ein paar Worte zu wechseln. Bist du jetzt im Club?»
«Ja. Aber ich habe zu tun.»
«Wir halten dich nicht lange auf.»
Ich versprach Koivu, ihn zu Zimtschnecken im Café Kaisa in Tapiola einzuladen,
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