Sag niemals STIRB
sich seitlich gegen das Geländer. „Absolut nicht. Nach Vietnam habe ich meinen Abschied genommen, bin zurück ans College und habe sozusagen ein Diplom in Steinen und Gebeinen gemacht. Anthropologe mit Schwerpunkt Südostasien. Ich arbeitete eine Weile in einem Museum und stellte dann fest, dass die Army besser bezahlt. Also habe ich mich als ziviler Mitarbeiter verpflichtet. Ich sortiere noch immer Gebeine, aber jetzt haben sie Namen, Dienstrang und Erkennungsnummer.“
„Und deshalb reisen Sie nach Vietnam?“
„Ja, es sind neue Überreste in Saigon und Hanoi abzuholen.“
Überreste. So ein klinisches Wort für etwas, das einst ein menschliches Wesen war.
„Ich kenne ein paar Leute“, sagte er. „Ich könnte Ihnen helfen.“
„Warum?“
„Sie haben mich neugierig gemacht.“
„Ist das alles? Neugierde?“
Er strich ihr kurzes Haar zurück. Die flüchtige Berührung seiner Finger ließ ihren ganzen Hals prickeln. Sie erstarrte und konnte nicht auf denunerwarteten, vertraulichen Kontakt reagieren.
„Vielleicht bin ich einfach nur ein netter Kerl“, flüsterte er.
Oh, verdammt, gleich küsst er mich, dachte sie. Und ich werde es zulassen, und was dann kommt, weiß ja jeder …
Sie schlug seine Hand weg und wich hastig zurück. „Ich glaube nicht an nette Kerle.“
„Angst vor Männern?“
„Nein, aber ich vertraue ihnen auch nicht.“
„Trotzdem haben Sie mich in Ihr Zimmer gelassen.“ In seiner Stimme schwang offen Lachen mit.
„Vielleicht ist es Zeit, Sie hinauszulassen.“ Sie durchquerte den Raum und riss die Tür auf. „Oder wollen Sie Schwierigkeiten machen?“
„Ich?“ Zu ihrer Überraschung folgte er ihr an die Tür. „Ich mache nie Schwierigkeiten. Außerdem kann ich heute Abend nicht hier bleiben. Ich habe etwas Wichtigeres zu erledigen.“
„Tatsächlich?“
„Tatsächlich.“ Er betrachtete das Schloss an ihrer Tür. „Sie haben einen Sicherheitsriegel. Benutzen Sie ihn! Und machen Sie heute Abend keinen Zug durch die Gemeinde.“
„Verdammt! Genau das hatte ich vor.“
„Ach ja, falls Sie mich brauchen …“, er drehte sich um und lächelte ihr von der Türöffnung her zu, „… ich bin im Liberty Hotel. Sie können jederzeit anrufen.“
Sie wollte schon antworten, dass er gar nicht darauf zu warten brauche, aber bevor sie die Worte herausbrachte, war er schon gegangen.
Sie starrte auf eine geschlossene Tür.
3. KAPITEL
Tobias Wolff drehte seinen Rollstuhl vorm Barschrank herum und sah seinen alten Freund an. „An deiner Stelle, Guy, würde ich die Finger von der Sache lassen.“
Es war fünf Jahre her, dass sie einander zum letzten Mal gesehen hatten. Toby sah noch immer so muskulös wie immer aus – zumindest von der Taille aufwärts. Fünfzehn Jahre im Rollstuhl hatten diese Schultern und Arme entwickelt. Dennoch hatten die Jahre ihren unvermeidlichen Tribut verlangt. Toby war jetzt fast fünfzig und sah auch danach aus. Sein buschiges Haar, im Beethoven-Stil geschnitten, war fast vollständig grau. Sein Gesicht war gerötet und verschwitzt von der tropischen Hitze. Aber die dunklen Augen waren so scharf wie eh und je.
„Nimm einen Rat von einem alten Geheimdienstmann an“, sagte er und reichte Guy einGlas Scotch. „Es gibt kein zufälliges Zusammentreffen. Es gibt nur geplante Begegnungen.“
„Zufall oder nicht“, sagte Guy. „Willy Maitland könnte die Chance sein, auf die ich gewartet habe.“
„Oder sie könnte nichts als Ärger sein.“
„Was habe ich zu verlieren?“
„Dein Leben.“
„Komm schon, Toby! Du bist der Einzige, bei dem ich auf eine ehrliche Antwort vertrauen kann.“
„Es ist lange her. Ich war mit dem Fall nicht direkt befasst.“
„Aber du warst in Vietniane, als es passierte. Du musst dich doch an irgendetwas über die Maitland-Akte erinnern.“
„Nur, was ich aufgeschnappt habe.“
„Erinnerst du dich daran, wer den Maitland-Fall bearbeitete?“
„Das muss Mike Micklewait gewesen sein. Er hat diesen Dorfbewohner vernommen – den, der wegen der Belohnung gekommen war.“
„Hat Micklewait dem Mann denn die Geschichte abgenommen?“
„Wahrscheinlich nicht. Ich weiß, dass der Dorfbewohner die Belohnung nicht bekommen hat.“
„Und warum hat Maitlands Familie nichts davonerfahren?“
„Hey, Maitland war nicht irgendein armseliger Wehrpflichtiger. Er hat für Air America gearbeitet, also für CIA. Über einen solchen Job spricht man nicht. Maitland kannte die Risiken. Außerdem lief da ein
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