Sagen und Märchen Altindiens
Glück vergeblich nach deiner Damayanti rufst! Hilf! Nala, hilf!«
Ein Jäger hörte die Schreie, sprang durch den Busch und schoß der Schlange einen Pfeil durch den Kopf. Dann löste er die ihrer Sinne Beraubte aus der Umschlingung der toten Schlange und labte sie mit Wasser und Früchten.
Als Damayanti sich erholt hatte, erzählte sie dem Jäger ihre Geschichte. Und in dem lumpenumhüllten, gramverzehrten, schmutzigen und von Dornen zerrissenen Leib war noch so viel Liebreiz, daß der Jäger seiner Begierde erlag und voll Ungestüm seinen Schützling zum Weibe begehrte. Damayanti stieß ihn zurück und sprang ins Dickicht, der Wilde ihr nach. Als die Erschöpfte in ihrer Bedrängnis verzweifeln wollte, suchte sie Hilfe bei den Göttern und flehte: »So wahr keiner meiner Gedanken je einem ändern als Nala gehören soll, so rasch befreit mich von diesem Frevler, ihr Götter!«
Da fuhr Indras Blitz aus heiterem Himmel und schlug den Jäger zu Boden.
Entsetzt floh Damayanti von der Stätte des Gerichtes. Floh durch den dichtesten Wald, über mannshohe Wurzeln, durch das zugreifende Dorngestrüpp, über Sumpf und Steine, Berg und Tal, durch Schluchten und Schrunden, Nala rufend, Nala ersehnend, Nala liebkosend im Geist, als den heldenstarken, edlen und weisen Gemahl. Alle Schrecken der Wildnis: Löwengebrüll, Schlangengezisch, Brausen des Sturmes, Heulen der Wölfe, Kläffen des Schakals, Krächzen der Geier – sie riefen ihr eines nur zu: Nala in Not!
Erschöpft sank sie endlich in die Knie und flehte, die Hände erhoben:
»Tiger, starker König des Waldes, sag' mir, wo ist Nala! Damayanti bin ich, des Widarbherkönigs einzige Tochter, und such' meinen Gatten! Rastlos Schweifender, Herr des Getieres, sahst du ihn nicht? Nala such' ich, den Nischaderkönig, hilf mir, starkzahniger Tiger! Streif durch die Wälder, zieh' durch die Schluchten, such' meinen Herrn! Suche ihn, rufe ihn, bring' ihn zu mir, oder zerfleische mich arme Verlassene!
Und du, hochragender Riese, König der Berge, mit dem silberglänzenden Haupte! Siehst du meinen Nala nicht? Du siehst doch so weit ins Land! Winke ihm, ruf ihn, bring' ihn zu mir, oder stürz' ein und begrab' mich! mich, des Nischaders unglückliches Weib!«
Und dann sah sich die ruhelos Wandernde in einem friedlichen Hain, wo mächtige Bäume standen und die sauberen Hütten der Einsiedler. Würdige Greise sah sie da, mit freundlichem Antlitz, den Körper in Ziegenfelle gehüllt. Weißbärtig, mit lieben Augen, so saßen sie vor den Hütten oder spielten mit den Tieren des Waldes, die sie nicht scheuten. Papageien und Affen schaukelten in den Ästen, Hirsch und Gazelle sprangen auf der Wiese, und die heiligen Männer sangen fromme Lieder. Alles fand Damayanti so, wie es in den heiligen Schriften zu lesen stand.
Da trat sie vor und frug schüchtern, wie es die Sitte erheischte, ob es ihnen allen wohlergehe, ob sie reichlich Nahrung und Wasser hätten und viele Schätze an Buße.
Die heiligen Männer dankten mit freundlichen Worten und fragten die Verirrte, wer sie sei. Da erzählte die Leidgeprüfte ihre Geschichte und weinte bitterlich. Der älteste der Büßer aber tröstete sie und sprach:
»Sieh, für unser frommes und strenges Leben ist uns vom Himmel beschert, daß wir in die Zukunft sehen.
Dich, Holde, seh' ich dort glücklich! Der Wahn wird von dem Nischader weichen; er kehrt zurück in sein Reich als König, und Glück, Ehre und Reichtum wirst du mit ihm teilen!«
Dankbar neigte sich Damayanti zur Erde, in stillem, erlösendem Weinen. Leiser und leiser, ferner und ferner klang das fromme Lied der Büßer, und als die Getröstete erwachte, lag sie allein im. hellen Licht der Morgensonne unter einem mächtigen Asokabaum. »Asoka« aber heißt auf Deutsch soviel als »Sorgenbrecher«.
Neugestärkt erhob sich Damayanti, küßte den hohen Stamm des Sorgenbrechers und umwandelte dreimal den heiligen Baum, ihn mit der Rechten berührend. An seinen Zweigen aber brachen alle Blüten auf und dufteten weit durch den Wald, denn so ist es dem Asoka von dem Himmlischen gesetzt, daß er blühe, wenn ihn ein reines Weib berühre.
Da sie noch stand und dem Baum dafür dankte, daß er ihr wirklich ein Sorgenbrecher war, hörte sie die Schellen von Kamelen und die Stimmen von Elefantentreibern. Sie bat noch den Wunderbaum, Nala zu grüßen, wenn er vorbeikäme, und lief dann schnell nach den Tönen, die ihr eine Karawane anzeigten.
Talwärts lief sie und sah unten, längs
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