Sagen und Maerchen aus Sachsen und Thueringen (Erweiterte Ausgabe)
ging ihr der Schleier nur noch bis unter die Augen. Dem Grafen zitterte das Herz, als er ihr lockiges, goldgelbes Haar und die klaren, lieblichen Augen sah; und wie sie sprach, war ihre Stimme schon nicht mehr so traurig wie den Tag vorher. Sie dankte ihm daß er die erste Probe so muthig bestanden hatte und sagte »Du wirst heut noch mehr erleiden müssen als gestern, doch fürchte dich nicht: sie haben nur in der einen Stunde Gewalt über dich; und wenn du die dritte Probe bestanden hast, mache ich dich zu einem reichen, reichen Könige .« Und kaum war sie hinausgegangen, so stürzte ein Löwe herein und auf den Grafen zu, als wollte er ihn zerreißen: doch da der Graf still sitzen blieb und sich nicht wehrte, ging er langsam und knurrend wieder zur Thür hinaus. Nun kamen acht Männer und hieben mit Knütteln auf den Grafen ein, daß ihm, knick knack! ein Glied nach dem andern zerbrach, Arme und Beine, Brust und Kopf: dann ballten sie ihn zusammen und warfen ihn in die Höhe, und wenn er herunter kam, schnellten sie ihn immer wieder hinauf und trieben dies bis zum Schlage zwölf, mit dem sie verschwanden. Nun eilte der alte Kastellan wiederum mit seinen Dienern herbei, und sie gaben dem Grafen zwei Schluck von dem Balsam; und wieder versank er in den heilenden Zauberschlaf und war, als er aufwachte, gesund und stark.
Als in der dritten Nacht die Prinzessin kam, war sie schon bis zum Kinn entschleiert, und ihr Gesicht war so wunderschön, daß der Graf auf sie zuging und sie küssen wollte. Doch sie winkte ihm, daß er sie nicht anrühren solle, und sprach (und ihre Stimme klang weit fröhlicher als früher) »Noch mußt du die dritte und schwerste Probe bestehen: doch sei unbesorgt; und wenn sie dich auch in Stücke hauen, sobald es zwölf schlägt, bin ich frei und habe Macht dich aus dem Tode zu erwecken, und dann wollen wir, bis wir sterben, fröhlich bei einander bleiben.« Sie ging hinaus, und es kamen zwölf Männer mit Messern und Beilen und hieben ihm ein Glied nach dem andern ab; doch er sprach kein Wort und wimmerte nicht einmal. Und als sie ihn ganz in kleine Stücke gehauen hatten, warfen sie dieselben in ein Faß und verschlossen es fest. Da schlug es zwölf. Die Prinzessin eilte in das Zimmer, machte das Faß auf, und der Graf sprang gesund und unversehrt heraus und war weit schöner als je zuvor. Vor ihm aber stand die Prinzessin in königlichen Gewändern, und sie war so wunderhold wie keine Frau vor ihr und nach ihr; und sie fiel ihm um den Hals und sagte, nun sei sie erlöst und sei seine liebe Braut, lachte und weinte und gab ihm einen herzlichen Kuß. Als nun auch er sie zu küssen anfing, da hörte man Sporen und Schwerter die Treppe herauf klirren, und herein traten wohl hundert stattliche Ritter, die silberne Panzer und goldene Helme trugen; und sie ließen sich vor dem jungen Grafen nieder auf die Knie, begrüßten ihn als ihren Herrn und als König des Landes und erzählten, sie alle seien verwünscht gewesen und nun durch ihn erlöst. Und wie sie noch sprachen, traten eben so viele schöne Frauen herein; die ginge alle in Samt und Seide und knieten vor dem Grafen nieder wie die Ritter: und dann kamen die Kammerjunker und Kammerjungfern, die Köche und Kellner, Jäger und Kutscher, und alle dankten dem Grafen für ihre Erlösung.
Unterdeß war es Morgen geworden, und die Prinzessin führte ihren jungen Gemahl ans Fenster, wies mit der Hand hinaus und sprach »Sieh, dies Alles ist dein .« Als er hinausblickte, war der Nebel, der früher das Schloß umgab, verschwunden, und vor ihm lagen reife Ährenfelder, grüne Wälder und dazwischen Hügel, Dörfer und Städte. Und wie er so mit der Prinzessin am Fenster stand, da neigten sich die weiten Ährenfelder vor ihnen, und dann begannen die Wälder sich wie grüßend zu bücken, und zuletzt verneigten sich auch die Hügel und Berge.
Nun lebten sie ein ganzes Jahr in großem Glück. Da fiel dem jungen Könige sein kranker Vater ein und seine liebe Mutter, und er bat seine Gemahlin um Urlaub, er wolle seine alten Eltern besuchen. Sie steckte ihm einen Ring an den Finger und hieß ihn den auf der Reise immer ansehen, damit er sie nicht vergäße, und sagte ihm auch, er solle immer grad aus reiten und in keinen Weg, der rechts oder links abginge, einlenken, so werde er sicher zu seinen Eltern kommen; der Ring aber werde bei Nacht leuchten, daß er den Weg immer sehen könne. Und sie gab ihm und seinen beiden Knappen Rosse, die nie müde
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