Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
hatten die Kellner gleichsam die Rolle von Straßenräubern übernommen. Unverfroren wurde das Leiden des Krieges ausgeschlachtet. Durch den Wiederaufbau hatten die alten Gebäude, die jetzt alle mit den gleichen Dachziegeln gedeckt waren, ein einheitliches Aussehen bekommen, alle Läden priesen die gleichen Andenken an, darunter Videos mit Kriegsgräueln, Postkarten mit Bildern der Zerstörung, Kalender, deren Blätter in Stücke geschossene Baudenkmäler zeigten. Alle Restaurants schienen die gleichen Gerichte, die gleichen Weine und Liköre auf der Karte zu haben, alle Eisdielen die gleichen Sorten mit identischem Geschmack … Dubrovnik kam ihm vor wie eine künstliche Stadt, ein großer Themenpark für den Tourismus, der wie ein Phönix aus der Asche ihres eigenen Feuers emporgestiegen war.
Als er am Ende der Stradun den Platz mit dem sogenannten kleinen Onofrio-Brunnen erreicht hatte, wandte er sich nach links zum Ploče-Tor und zum alten Hafen. Man hatte ihn im 15. Jahrhundert gebaut, um eine Anlegemöglichkeit für die Schiffe der Republik zu schaffen. Inzwischen lag dort eine Unzahl privater Yachten und Segelboote. Er setzte sich auf eine Caféterrasse und sah gemächlich dem Strom der Menschen zu. Zu Tausenden zogen Touristen mit der Kamera in der Hand vorüber und machten wahllos Aufnahmen. Weniger als einen Kilometer von der Küste entfernt sah man die Umrisse der Insel Lokrum mit ihrer Benediktiner-Abtei aus dem 11. Jahrhundert.
Mit einem Mal fiel ihm etwas auf. Zwischen Lokrum und dem alten Hafen ankerte ein Frachter. Wegen der großen Entfernung konnte er von dessen Namen nur die ersten drei Buchstaben lesen: Ale . Da er sich Gewissheit verschaffen wollte, bat er den Amerikaner am Nebentisch, der gerade, wie auch seine Begleiterin, einen riesigen Eisbecher auszulöffeln begann, ihm seine Kamera einen Augenblick zu leihen, was dieser freundlicherweise tat. Munárriz richtete sie auf das Schiff, betätigte den Zoom und konnte durch den Sucher jetzt deutlich »Alexander Nevski« lesen. Der alte Fischer Pau Escofet hatte Recht gehabt – der Frachter hatte einen falschen Bestimmungshafen angegeben und war statt nach Livorno an der italienischen Westküste nach Dubrovnik in der Adria gefahren. Er gab dem Amerikaner den Fotoapparat zurück und winkte den Kellner herbei.
»Was bin ich schuldig?«, fragte er. Er merkte, dass sein Puls rascher ging.
»Zweiundzwanzig Kuna.«
»Liegen da draußen oft Schiffe vor Anker?«, fragte er, wobei er zur Insel Lokrum wies.
»Nein«, bekam er zur Antwort. »Vermutlich wartet es auf den Lotsen, der es zum neuen Hafen bringen soll.«
Nachdem er den Betrag mit einem ordentlichen Trinkgeld aufgerundet hatte, verließ er die Caféterrasse. Am Rande des alten Hafens entlang erreicht er schließlich das Johannes-Fort an dessen südlichem Ende. Von seiner Höhe herab konnte er den Frachter gut im Auge behalten. Er nahm seinen Rückflugschein nach Zagreb aus der Tasche und zerriss ihn in winzige Fetzen: eine Geste ähnlich der, mit der einst Hernán Cortés in Veracruz seine Schiffe verbrannt hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er konnte weder den Flug antreten noch umbuchen oder sein Geld zurückverlangen. Er musste unbedingt feststellen, was der Frachter in Dubrovnik wollte und warum der Kapitän vor dem Auslaufen aus Barcelona einen falschen Zielhafen angegeben hatte. Ein auf der Mauer des Forts fest montiertes drehbares Fernrohr, mit dem sich Touristen die Gegend ansehen konnten, kam ihm für seine Zwecke wie gerufen. Er warf einige Münzen in den Schlitz und richtete es auf den Frachter, auf dem kaum Leben zu herrschen schien. Lediglich zwei Männer schrubbten das Deck vor der Kommandobrücke. Nach einer Weile klappte die Blende vor das Okular, weil das Geld aufgebraucht war. Zum Glück hatte er noch einige Kuna Kleingeld in der Tasche.
Allmählich begann es zu dämmern. Er sah auf die Uhr. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Rundweg auf der Wehrmauer für Besucher geschlossen wurde. Die Lichter an Deck des Frachters gingen aus, so dass man nur noch seine Positionsleuchten sah. Munárriz warf noch einmal Münzen ein und richtete das Fernrohr auf das Schiff. Im Halbdämmer entdeckte er, dass ein Ruderboot zu Wasser gelassen wurde. Zwei Männer stiegen über eine Jakobsleiter hinein und griffen nach den Riemen.
Ein Uniformierter drängte die Besucher, die Befestigungsmauer durch den Turm des Forts zu verlassen. Munárriz brauchte unbedingt noch einige Minuten
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