Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
Munárriz verblüfft.
»Hunderte«, versicherte ihm Grau mit wie zwei Fächer gespreizten Händen. »Der Kopf ist Sitz der Intelligenz und der Weisheit, und dem Kopf des Leonardo-Mannes entspricht in der Sagrada Familia die Mitte der Taufkapelle, der mittleren von insgesamt sieben, jeweils die Nummer vier von rechts nach links wie von links nach rechts gezählt. Diese ›Vierheit‹ entspricht den Elementen der Alchemie: Wasser, Erde, Luft und Feuer. Der Oberkörper des Leonardo-Mannes«, fuhr er fort, um Munárriz vollends zu überzeugen, »wird mit der Schönheit oder mit Gott in Verbindung gebracht, weil nur Makelloses schön sein kann. Ihm entspricht die Lage des Hauptaltars mit dem Tabernakel als Aufbewahrungsort der Hostie, die für den Leib Christi steht. Der Ellbogen des rechten Arms deckt sich mit dem Bild des heiligen Jakobus, Schutzpatron Kataloniens und Bezwinger der finsteren Mächte, die in der Mythologie der Antike durch den Drachen verkörpert wurden. Der linke Ellbogen entspricht dem Bild des heiligen Matthias, des Jüngers, der nach Christi Tod an die Stelle des Judas Ischariot trat und dessen Leben ein Geheimnis birgt. Die Schamgegend des Leonardo-Mannes schließlich deckt sich mit dem Bereich innerhalb der vier Säulen des mittleren Gewölbes, die für die vier Evangelisten stehen. Auf die gleiche Weise, wie die Schöpfung aus den vier Elementen der Alchemisten hervorging, haben vier Männer dem Christentum Gestalt verliehen … So geht es weiter, bis die Darstellung jenes Mannes vollständig abgedeckt ist.«
»Das ist ja die reinste Kabbala«, murmelte Munárriz verblüfft.
»Die Stelle, an der die Sagrada Familia steht«, fuhr Grau fort, »liegt gleich weit vom Meer wie von den Bergen entfernt, genau in der Mitte der Stadt auf einer gedachten Linie zwischen den verschwundenen Dolmen von Montjüic und dem Campo del Arpa.«
»Sie meinen eine geodätische Linie?«
»Eine Linie, auf der sich Erdkräfte konzentrieren«, bestätigte Grau vorsichtig. »In der Geomantik der Chinesen, die wir als feng shui kennen, heißen solche Linien ›Erdschlangen‹. Verstehen Sie jetzt, warum die Lage der Sagrada Familia nach Gaudís Ansicht gottgewollt war?«
»Man könnte glauben, eine unsichtbare Hand habe ihn geleitet.«
»Daran besteht nicht der geringste Zweifel«, bekräftigte der Architekt. »Wie stark die Magie der Lage der Sagrada Familia ist, hat Gaudí im Park Güell deutlich gezeigt. Mit dem Turó von Las Menas oder Las Tres Cruces hat er einen von drei Kreuzen gekrönten Turm errichtet, wo ursprünglich eine Kirche vorgesehen war. Als Vorbild haben ihm dabei die Talayotes gedient, Türme mit Kammern darin, wie sie schon vor Urzeiten auf den Balearen üblich waren und über deren Zweck sich die Archäologen bis heute den Kopf zerbrechen. Wer sich neben das mittlere Kreuz stellt, das die beiden anderen überragt, erkennt, dass die Verlängerung seiner Arme eine gerade Linie zwischen zweien der bedeutendsten Gotteshäuser der Stadt bildet, nämlich der Kirche auf dem Tibidabo und der Sagrada Familia . Wenn man aber die Kreuze in Richtung Osten betrachtet, also dorthin sieht, wo das Heilige Land liegt, bilden Gaudís drei Kreuze ein einziges.«
»Was wollte er damit ausdrücken?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, gab Grau kopfschüttelnd zurück. »Im Jahre 1885 hat der mittlerweile heiliggesprochene Giovanni Bosco, der Gründer der Salesianer – Sie kennen Ihn sicher als Don Bosco – das Gelübde abgelegt, den Berg Collserola dem Heiligen Herzen Jesus zu weihen, und sieben Jahre später hat Enrique Sagnier Vilavecchia, ein Architekt des Modernismus und Vertreter der Neugotik, die Basilika in Angriff genommen, die allerdings erst 1961 fertig wurde. Aus Achtung vor dem Willen Don Boscos nannte er sie Sagrado Corazón de Jesús del Tibidabo , entsprechend den Worten des Teufels im Matthäus-Evangelium: ›Haec omnia tibi dabo si cadens adorabis me‹: All das gebe ich dir, wenn du vor mir niederfällst und mich anbetest.«
»Sozusagen eine vom Teufel angeregte Kirche.«
»Natürlich nicht«, wies Grau den ungehörigen Kommentar entschieden zurück. »Aber Gaudí hat mit dem Teufelssymbol gespielt, um deutlich zu zeigen, dass sich hinter seiner Kunst Erkenntnisse verbargen, die der orthodoxen Lehrmeinung der katholischen Kirche zuwiderliefen und von ihr bekämpft wurden.«
»Dann hatten also diese Fotos und Zeichnungen zum Ziel«, fasste Munárriz zusammen, der sich eifrig Notizen gemacht
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