Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
trennen, was die Natur ursprünglich zusammengefügt hatte. Mit diesen Berechnungen hier« – er wies auf ein Blatt – »soll eine numerische Proportion entsprechend dieser anderen Fotografie hergestellt werden, die den bethlehemitischen Kindermord zeigt, wie er in der Sainte Chapelle von Paris dargestellt wird.«
Munárriz fiel ein, dass er eine solche Darstellung in einer Archivolte der Kirche Santo Domingo in Soria gesehen hatte.
»Außerdem darf man nicht vergessen, dass abgeschnittene Köpfe wie bei diesen Kindermord-Szenen den Heiligen Gral versinnbildlichen.«
»Den Kelch des Letzten Abendmahls«, sagte Munárriz unwillkürlich, dem es so vorkam, als höre er Hochwürden Ramírez aus dem Mund des Architekten sprechen.
»So sonderbar das scheinen mag, taucht das Wort Gral zum ersten Mal gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Le Conte du Graal des Autors Chrétien de Troyes auf. Das Werk geht auf eine keltische Sage zurück, in deren Mittelpunkt der Reine Tor Perceval oder Parzival steht. Chrétien spricht von einem Gefäß, andere von einem Becher oder einer Schale. In der Überlieferung der Zisterzienser ist es ein Kelch, und in der walisischen Fassung ein Tablett mit einem abgeschnittenen Kopf darauf.«
»Das erscheint mir jetzt aber ziemlich an den Haaren herbeigezogen«, sagte Munárriz.
»Ich kann Ihnen versichern, dass alles, was ich Ihnen hier berichte, Wort für Wort auf streng wissenschaftlicher Grundlage beruht«, teilte ihm Grau mit, den diese kritische Äußerung ärgerte. »Abgeschnittene Köpfe tauchen als Symbol an einer Unzahl von Orten auf, an denen Initiationsriten durchgeführt wurden oder werden. Nehmen Sie nur das galizische Kirchspiel von Monterrey in der Nähe von Verín, wo man auf dem Türsturz der Kirche Santa María de Gracia sechs abgeschnittene Köpfe sieht. Sie sollen den Adepten darauf hinweisen, dass er den Fuß an eine heiligen Stätte setzt, deren Steine das Geheimnis der Element-Umwandlung bergen – letztlich nichts anderes als das Geheimnis des Grals, der Wasser und Wein in das Blut Christi verwandeln kann, und das Geheimnis der Jungfrau Maria, die den göttlichen Geist in sterbliches Fleisch umgestaltet hat.«
»Warum aber sechs?«, wollte Munárriz wissen. »Würde nicht einer die Aussage hinreichend verdeutlichen?«
»Sicher«, räumte Grau ein, »aber die Zahl sechs verstärkt das Gewicht des Symbols. Sie verweist auf die Schöpfungsgeschichte, denn Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen.«
»Bitte sagen Sie mir mehr über die Zypresse«, bat Munárriz. »Sie ist das Einzige, was ich auf den Fotos erkannt habe.«
»Dieser Baum ist ein Symbol für die Unsterblichkeit. In vielen Kulturen wurde er als Mitte oder Pfeiler der Welt dargestellt. Solche Weltenbäume verwiesen auf das heilige Wesen der Erde, und wegen ihrer Fruchtbarkeit und Langlebigkeit gesellte sich die Vorstellung von der Unsterblichkeit hinzu.«
»Das scheint mir widersprüchlich. Man findet solche Bäume doch auch an Wegen, die zu Friedhöfen führen. Mithin gemahnen sie auch an den Tod …«
»In der Tat stand die Zypresse in der Antike auch für den Tod«, gab Grau zu, »weil sie nicht neu ausschlägt, wenn man sie stutzt. Außerdem brachte man sie mit dem Hades, also der Unterwelt, und deren Beherrscher Pluto in Verbindung. Doch da an der Geburtsfassade der Sagrada Familia weiße Tauben auf ihr sitzen, die den Heiligen Geist verkörpern, ist sie dort ein Symbol für den Baum der Erkenntnis. Außerdem finden wir an ihrer Spitze ein T-förmiges Kreuz, das man wegen seines Ursprungs aus Ägypten ›ägyptisches Kreuz‹ nennt. Das T aber ist der Anfangsbuchstabe des griechischen Namens für Gott und zugleich das Symbol für den mystischen Stier, den kretischen labrys, wie auch für die zweischneidige Axt, die auf die magna mater verweist, die Große Mutter.« Grau machte eine kleine Pause und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »In der Alchemie steht das T für die Vollendung des Großen Werkes und weist auf die Erlangung der Quintessenz hin, das ausschließlich den Reinen vorbehaltene Elixier der Unsterblichkeit. Aus diesem Grund krönt ein solches Kreuz in dreidimensionaler Ausführung die Mehrzahl von Gaudís Bauten. Es fand sich übrigens auch am oberen Ende des Stabes, den der Großmeister des Templerordens als Zeichen seiner Macht in der Hand hielt, und man sieht es in ungeheurer Fülle an Templerbauten. Ein Beispiel dafür ist die Burg von Ponferrada im Nordwesten unseres
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