Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
Mann mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen in einem Kreis und einem Quadrat stehen sieht?«
»Genau die. Dabei entspricht das Verhältnis zwischen der Größe des Mannes und dem Abstand zwischen Nabel und Zehenspitzen dem Goldenen Schnitt.«
»Merkwürdig.«
»Ebenso merkwürdig ist es«, setzte der Architekt fort, »dass Leonardos berühmtesten Gemälden, nämlich der Mona Lisa im Pariser Louvre und dem Abendmahl , das man im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand bewundern kann, ebenfalls der Goldene Schnitt zugrunde liegt. Bei der Mona Lisa hat er diesem entsprechende Rechtecke verwendet, um das Gesicht zu malen, und beim Abendmahl entspricht die Anordnung von Jesus, der sitzenden Jünger, der Wände und Fenster genau dieser goldenen Zahl.«
»Findet sich diese Zahl auch beim Menschen?«
»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Grau. »Viele Philosophen setzen sie mit dem vollkommenen Wesen gleich.« Das Interesse seines Besuchers schien ihn zu freuen. »Der Mensch als Krone der göttlichen Schöpfung, wie ihn der unter dem Namen Agrippa von Nettesheim bekannt gewordene Philosoph, Theologe und Alchemist Heinrich Cornelius gesehen hat. Er beschäftigte sich mit dem Wesen der Natur und allem, was damit zusammenhängt, und stützte sich bei seinen Untersuchungen ganz wie Leonardo auf die schon genannte Darstellung eines Mannes, die nebenbei bemerkt auf den römischen Architekten Marcus Vitruvius Polio zurückgeht. Alle bedeutenden Architekten und Maler der Renaissance haben immer wieder Vitruvs in Venedig in der Galleria dell’Accademia aufbewahrtes zehnbändiges Werk De architectura , das man in Rom im Jahre 1486 erneut aufgelegt hat, herangezogen. Der eben genannte Agrippa von Nettesheim«, griff er zurück, »wurde übrigens in eben jenem Jahr 1486 geboren.«
»Wollen Sie mir damit zu verstehen geben, dass sich die Geheimnisse des Universums im Leib des Menschen verbergen?«
»Davon war Agrippa von Nettesheim überzeugt«, gab ihm Grau zu verstehen. »In De occulta philosophia erklärt er, dass der Mensch das vollkommenste Werk Gottes darstellt und daher dessen Leib alle Zahlen, Maße, Gewichte, Bewegungen und Elemente des Universums enthalten muss. Seiner Überzeugung nach gibt es keinen Teil des menschlichen Körpers, der nicht in Beziehung zu einem Sternzeichen, einem Himmelskörper, einer Intelligenz, einem göttlichen Namen und dem göttlichen Archetyp stünde …«
»Das ist alles sehr lehrreich«, sagte Munárriz nachdenklich. »Sie wollen damit wohl sagen, dass man anhand dieser mathematischen Berechnungen, von den Zahlen pi und phi ausgehend, den Versuch unternimmt, eine dritte Proportion zu finden, die allen dargestellten Figuren gemeinsam ist. Eine besondere und bisher unbekannte Goldene Zahl. Habe ich das richtig verstanden?«
»Sie sind ein schlauer Fuchs«, sagte Grau befriedigt, wenn auch mit einem leisen Anflug von Spott in der Stimme.
»Und was will man damit erreichen?«
»Eine Formel für die geometrische Anordnung hochreiner Metalle, bei der Kräfte freigesetzt werden, die eine alchemistische Element-Umwandlung ermöglichen. Das, was sich die Alchemisten von jeher erträumt haben: den Stein der Weisen zu finden, die Quintessenz – die fünfte Substanz, welche die Reinheit der vier Elemente in sich vereint und daher aus dem Zustand der Substanz in den der Essenz, der alles umfassenden Wesenheit, übergeht. Kurz gesagt, die Verdichtung des spiritus universi , des universalen Geistes, der sich vermittels des alchemistischen Prozesses materialisiert.«
»Die Quintessenz …«, murmelte Munárriz vor sich hin. Sein Gespräch mit dem Priester Ramírez kam ihm ins Gedächtnis.
»Wer diese Berechnungen durchgeführt hat, war tief in die Geheimnisse der hermetischen Geometrie und der Alchemie eingedrungen.«
»Welche Beziehung besteht denn zwischen diesen Fotos und Zeichnungen einerseits und der Alchemie sowie dem Leib des Menschen als Archetyp der Schöpfung andererseits?«, erkundigte sich Munárriz.
»Ich will versuchen, das möglichst einfach zu erklären«, sagte Grau. Nach kurzem Überlegen begann er: »Agrippa von Nettesheim hat ebenso wie Leonardo gezeigt, dass sich der Leib des Menschen innerhalb eines Quadrates darstellen lässt. Mit ausgestreckten Armen und nebeneinandergestellten Füßen bildet er ein Quadrat, dessen Mittelpunkt am unteren Ende des Schambeins liegt. Um ihn herum lässt sich ein Kreis schlagen, der über den Scheitel verläuft.
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