Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
Wenn der Mensch die Arme so weit senkt, dass er den Kreis mit den Fingerspitzen berührt, und die Beine so weit spreizt, dass zwischen den Füßen derselbe Abstand besteht wie zwischen Scheitel und Fingerspitzen, ist der Kreis in fünf symmetrische Abschnitte unterteilt. Es entsteht ein regelmäßiges Fünfeck, sowie zwischen Fußsohlen und Nabel ein gleichseitiges Dreieck. Können Sie mir folgen?«
»Bis jetzt schon.«
»Auf diese Weise bildet der Mensch ein magisches Zeichen nach, das seit ältesten Zeiten bekannt ist«, erläuterte Grau. »Die Pythagoräer haben es mit dem höchsten Wissen gleichgesetzt, und es verwandelte sich im Mittelalter in das Christusmonogramm mit dem Alpha und Omega. Nur der Vollständigkeit halber möchte ich hinzufügen«, erklärte er mit gewichtiger Stimme, »dass der berühmte Stab des Merkur, bei dem zwei in Gestalt einer Acht ineinandergewundene Schlangen ihre Köpfe gegeneinander richten, ebenfalls der goldenen Zahl phi entspricht.«
»Wenn ich das Ganze richtig verstanden habe«, fasste Munárriz zusammen, um den Überblick nicht zu verlieren, »handelt es sich hier um Zahlen und Proportionen, hinter denen sich ein hermetisches Wissen verbirgt.«
»Ich sehe, dass Sie mich verstanden haben.« In Graus Stimme schwang Stolz auf seine didaktischen Fähigkeiten mit. »Wer auch immer diese Aufnahmen gemacht, die Zeichnungen angefertigt und die komplizierten mathematischen Berechnungen durchgeführt hat, war bestens mit dem hermetischen Hintergrund der Sagrada Familia vertraut, denn auf diesen Bau bezieht sich der größte Teil der Abbildungen.«
»Welchen Sinn soll das haben?«, hielt Munárriz dagegen, während sich in seinem Kopf Tausende Fragen drängten. »Die Sagrada Familia bildet doch kein Fünfeck?«
»Da irren Sie sich aber gewaltig«, wies ihn Grau zurecht. »Einige einfache Berechnungen genügen, um zu zeigen, dass es sich so verhält. Ich darf Ihnen versichern, dass ihr Grundriss ein vollkommenes Fünfeck bildet. Gaudí hat im Übrigen immer erklärt, dass die Lage wie die Anlage der Kathedrale Gottes Willen zu gehorchen habe.«
»Er war aber doch gar nicht der Initiator dieses Bauwerks«, wandte Munárriz ein. Das zumindest wusste er von der Geschichte des Bauwerks.
»Das ist richtig«, bestätigte Grau. »Der Buchhändler José María Bocabella, Gründer der Asociación Espiritual de Devotos de San José, war die treibende Kraft hinter dem Bau jener Kirche und er durfte auf die uneigennützige Unterstützung des bischöflichen Architekten Francisco de Paula del Villar zählen, der die ersten Pläne gezeichnet und die Anfänge des Baus geleitet hat. Doch schon bald kam es zwischen den beiden zu Unstimmigkeiten, und so beschloss Bocabella, einen anderen Architekten für dieses bedeutende Unternehmen zu suchen. Man berichtet, ein Traum habe ihm verheißen, er werde einem jungen Mann begegnen und ihn an seinen blauen Augen erkennen. Als ihm sein Freund Juan Martorell den jungen Gaudí empfahl, entschied er sich umgehend, ihm das Projekt der Sagrada Familia anzuvertrauen, als er sah, dass dieser blaue Augen hatte.«
»Ich hatte also recht«, sagte Munárriz befriedigt.
»Nur insoweit, als Gaudí nicht Initiator des Baues war – nicht aber mit Bezug auf die Gestalt von dessen Grundriss«, hob der Architekt hervor. »Dieser liegt ebenso wie der von Notre Dame in Paris und Hunderten anderer gotischer und vor ihnen romanischer Kirchen in einem Kreis, in den sich ein regelmäßiges Fünfeck oder ein fünfzackiger Stern zeichnen lässt. Wenn wir den Leonardo-Mann auf den Grundriss der Sagrada Familia übertragen, entspricht jeder Körperteil einem Schlüsselbereich der Kirche. Damit soll der vollkommene Mensch symbolisiert werden, der umgewandelte göttliche Geist, kurz, die Quintessenz. Agrippa von Nettesheim schreibt in De occulta philosophia «, setzte er hinzu, um seine Theorie zu untermauern, »dass man in der Antike Tempel und öffentliche Bauten nach dem Vorbild des menschlichen Körpers angeordnet hat und in der bildenden Kunst ebenso vorgegangen ist, weil Gott dem Mechanismus des Universums die Symmetrie des menschlichen Leibes verliehen hat. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran«, schloss er, »dass Gaudí mit Vitruvs, Leonardos sowie Francesco Giorgios Werk vertraut war, wie auch mit dem Luca Paciolis, dessen Schrift über den Goldenen Schnitt mit dem Titel De divina proportione im Jahre 1509 erschienen ist.«
»Gibt es Belege dafür?«, erkundigte sich
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