Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
Munárriz ein.
»Ich stelle fest, dass Sie sich dort gut umgesehen haben«, sagte Grau. »Mit bloßem Auge lassen sich im Sternbild des Krebses einhundertundzwei Sterne erkennen. Auch die Quersumme dieser Zahl ergibt drei. Sie sehen also«, hob er hervor, »an der Sagrada Familia findet sich das Geheimnis des Grals in Beziehung auf die Zwillinge sowie auf die Jungfrau Maria als auserwähltes Gefäß für die Umwandlung des göttlichen Geistes in sterbliches Fleisch.«
»Diesem Symbol scheint Gaudí aber keine besondere Bedeutung beigemessen zu haben.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Es ist doch lediglich ein einfacher Hinweis auf die Tierkreiszeichen, den man kaum wahrnimmt.«
»Das gilt nur für Menschen, die es nicht verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen«, hielt ihm Grau entgegen. »Zum Teil haben Sie aber insofern recht, als dies Symbol in der Sagrada Familia nicht besonders herausgestrichen wird. Der Grund dafür liegt darin, dass Gaudí ihm eigentlich ein eigenes Bauwerk zugedacht hatte.«
»Sie meinen, einen Bau zur Ehre der Jungfrau Maria und des Heiligen Grals?«, entfuhr es Munárriz, dessen Verblüffung immer mehr zunahm.
»So ist es«, bestätigte Grau. »Die Gelegenheit dazu ergab sich, als ihn Pedro Milá mit der Errichtung eines luxuriösen Hauses an der Ecke des Paseo de Gràcia und der Calle Provença beauftragte.«
»Ach, Sie meinen La Pedrera ?«
»Ja, diesen Spitznamen haben ihm die Bewohner der Stadt Barcelona gegeben«, erklärte Grau, »weil es ihnen wie ein riesiger Steinhaufen vorkam. Manche nennen es wegen seiner vielen Fenster und Balkone aber auch El Avispero , ›Wespennest‹.«
»Ich selbst muss bei seinem Anblick eigentlich eher an eine große Welle denken, an das bewegte Meer«, sagte Munárriz, während er sich das Bild des Gebäudes vor das innere Auge rief.
In diesem Augenblick klopfte die Haushälterin leise an die Tür zum Erker. Der Architekt öffnete den Mund, sagte dann aber nichts. Die Frau trat mit einem Tablett ein, goss beiden Männern Kaffee nach, gab zwei Stückchen Zucker in Alfonso Graus Tasse und stellte zwei Gläser mit Mineralwasser auf den Tisch. Dann zog sie sich ebenso stumm zurück, wie sie gekommen war.
»Man hat Casa Milá oder La Pedrera mit Hunderten von magischen Orten verglichen«, fuhr Grau fort, als sie die Türflügel wieder hinter sich geschlossen hatte. »Mit der Hauptstadt der Nabatäer Petra, den Felsen Kappadokiens, den in der Mönchsbergwand verborgenen Katakomben des Friedhofs von St. Peter in Salzburg, den Getreidespeichern im Sudan, den aus Lehm errichteten Moscheen Afrikas … Gaudí aber hatte nichts anderes im Sinn, als einen künstlichen Berg zu Ehren der Jungfrau Maria zu errichten. Collins hat das Symbol begriffen und den Bau als ›von Menschenhand errichtetes Gebirge‹ bezeichnet.«
»Ich will gern zugeben, dass es wie ein mächtiger Steinhaufen aussieht«, wandte Munárriz ein. »Aber ein Gebirge … Ich weiß nicht recht.«
»Wegen bürokratischer Schwierigkeiten ist das Haus Milá nie fertig geworden«, lieferte Grau eine genauere Erklärung. »Das dürfte der Grund dafür sein, dass sich dem Nicht-Eingeweihten sein Symbolgehalt nicht erschließt. Es wäre sogar noch schlimmer gekommen, wenn sich die Stadtbauräte im September 1909 durchgesetzt hätten.«
»Inwiefern?«
»Sie erklärten, da das Gebäude die Höhenvorgabe für Bauten in jenem neuen Stadtteil überschreite«, führte Grau mit kaum unterdrücktem Groll in der Stimme aus, »müsse man die betreffenden Teile abreißen. Besonders hervorgetan hat sich dabei Planada. Wären sie damit durchgekommen, gäbe es die herrlichen Dachskulpturen nicht mehr, mit denen Gaudí die Entlüftungseinrichtungen und Schornsteine verkleidet hatte. Für sie hatte er die Gestalt von Helmen der Tempelritter gewählt, welche die Jungfrau Maria, also den Gral, zu ihrer ewigen Heimstatt geleiten sollten.«
»Und wieso ist es nicht zum Abriss gekommen?«
»Im Dezember 1908 wurde der Bau als Denkmal von nationaler Bedeutung eingestuft, womit die Vorschriften der Bauordnung auf ihn nicht mehr anwendbar waren.«
»Und wie sollte das Haus nach seiner Fertigstellung aussehen?«
»Um den Betrachter an ein Gebirge denken zu lassen, wollte Gaudí die Balkone so gestalten, dass auf ihnen Hunderte von Töpfen mit Kletterpflanzen und Efeu Platz fanden, welche die Fassade verdeckt hätten, ganz so, wie in den Bergen die Vegetation das Gestein überwuchert. Er hatte sogar ein automatisches
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