Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
denen Graus wie ein Wassertropfen dem anderen. Es war unmöglich, dass sich diese Männer irrten. Er stand auf und sah durch das große Erkerfenster auf die Stadt hinab. Der Dunst hatte sich gelichtet, und golden blitzten die venezianischen Kacheln an den Turmspitzen der Sagrada Familia im Schein der Sonne. Sofern Grau Recht hatte, barg Europas letzte im Geist der Gotik errichtete Kathedrale den Schlüssel zur alchemistischen Umwandlung von Metallen. Er atmete tief ein und setzte sich erneut. Es strengte ihn an, sich so lange auf das zu konzentrieren, was ihm Grau vortrug.
»Inwiefern soll bei der Sagrada Familia eine Beziehung zwischen der Jungfrau Maria und dem Gral bestehen?«, erkundigte er sich verwirrt.
»Haben Sie sie in San Bartolomé erkannt?«
»Ja. Der Priester hat mir einen Kragstein gezeigt, auf dem zwei völlig gleich aussehende männliche Gestalten einander umarmen und gesagt, es handele sich um die Zwillingsbrüder Castor und Pollux, zwischen denen und Maria eine Beziehung bestehe.«
»Sehr gut«, lobte ihn Grau. »Die Zwillinge sind eins der wichtigsten Symbole des Templerordens. Diesen Symbolismus nimmt die Sagrada Familia auf. Im Tympanon der Geburtsfassade wie auch in der Rosette über den beiden Spitzbogen über dem Eingang finden sich sechs der zwölf Tierkreiszeichen.« Rasch skizzierte er sie schematisch auf einem Blatt Papier. »Als Erstes sehen wir den Widder. Er steht in Verbindung mit Jason und den Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies. Das ist ein ganz bedeutendes Symbol, denn es zeigt dem Adepten den Beginn seines Initiationsweges auf der Suche nach dem Stein der Weisen oder der Quintessenz. Als Nächstes folgt der Stier. Er steht in Verbindung mit dem Gilgamesch-Epos, denn die babylonisch-assyrische Hauptgöttin Ischtar, die mehr oder weniger mit der von Gilgamesch verschmähten sumerischen Inanna gleichgesetzt wird, Tochter des Himmelsgottes und Göttin der fleischlichen Leidenschaften wie auch der Sinnlichkeit, gebar den Himmelsstier. Dieser ist das Symbol der Fruchtbarkeit und steht seinerseits in Verbindung mit den Mondphasen.«
»Ein Symbol mithin, das dem Adepten zeigt, welcher Lohn ihm winkt, wenn er seinen Weg bis zum Ende geht.«
»Ganz genau«, bestätigte Grau. »Die Fruchtbarkeit des Geistes, die es ihm ermöglicht, am Ende seines physischen wie psychischen Weges vermittels der spirituellen Umwandlung in den Besitz der Quintessenz zu gelangen.«
Bei diesen Worten Graus betrachtete Munárriz aufmerksam die Skizze, die jener auf das Blatt geworfen hatte.
»In der Mitte haben wir Castor und Pollux. Die Zwillinge stehen für den Dualismus des Kosmos. Wir finden dieses Symbol« – dabei wies er mit der Spitze seines Bleistifts auf die entsprechende Stelle – »auch in Form der Säulen des Herkules oder der als Yakin und Boaz bekannten ehernen Säulen in Salomos Tempel. Die Templer stellten es in Gestalt zweier völlig gleich gekleideter reitender Adepten dar, wie man an ihrem berühmten Siegel mit der Umschrift sigillum militum Christi erkennen kann. Diese Wörter stehen ebenso wie die Anordnung einzelner Buchstaben in Beziehung zu Himmelsbeobachtungen. Mit dem Siegel huldigten sie zweien der Mitbegründer des Ordens, nämlich seinem ersten Großmeister Hugues des Payens und dessen späterem Stellvertreter Geoffroy de Saint Omer. Der Orden war anfangs so arm, dass sich die beiden genötigt sahen, zu zweit auf einem Pferd zu reiten. Auch nachdem er wohlhabend geworden war, behielt er dieses Siegel als Hinweis auf seine anfängliche Armut bei. Im Übrigen«, hob Grau hervor, »spielte das Symbol der Zwillinge in seinen Riten beständig eine Rolle. Sicher ist es kein Zufall, dass der Sitz der Templer in Paris ganz in der Nähe der den Heiligen Gervasius und Protasius geweihten Kirche lag. Sie sollen der Überlieferung nach Zwillingsbrüder gewesen sein, was allerdings von manchen bestritten wird.«
Es fiel Munárriz immer schwerer, Graus Ausführungen zu folgen. »Gaudí brachte das Zeichen der Zwillinge in der Mitte an, weil ihm die Symbolik der Templer zur Genüge bekannt war, aber auch, weil es in dieser Position auf die Zahl Drei verweist, die für Weisheit steht. Unmittelbar daneben finden wir den Krebs, Gaudís persönliches Tierkreiszeichen und zugleich eins der achtundvierzig Sternbilder, die der griechische Astronom Ptolemäus in seinem Werk Almagest aufgezählt hat.«
»Dieses Sternbild findet sich auch an der Kapelle von San Bartolomé«, warf
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