Sakramentisch (German Edition)
Sonne und wartete auf den Herzinfarkt oder auf den
schnellen Tod. Sein Magen rumorte, der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
In einem Anflug von letzter Hoffnung beschloss er, etwas Mutiges zu
tun. Er suchte die Nummer von Gustl Jedlitschka heraus, Lolas Studienkollegen,
den sie besuchen wollte.
Dann trat er mit dem Hörer in der Hand ans Fenster und schaute auf
die gut befahrene Straße vor dem Hotel. Wahrnehmen tat er nichts. Er sah nur
Lolas Bild vor sich.
»Hallo, Herr Jedlitschka?«
»Nein, ich bin Frau Jedlitschka.«
Oh. Eine tiefe Altstimme wie ein Mann. »Entschuldigen Sie …«
»Ist schon gut. Bin ich gewöhnt. Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Joe Ottakring. Ich wollte gern Herrn Gustl Jed…«
»Ah! Herr Ottakring. Dann sind Sie bestimmt der Mann von der Lola.
Ja, ich hab schon viel von Ihnen –«
»Haben Sie auch von Lola gehört?«
»Ja freilich. Ist aber bestimmt schon ein Vierteljahr … Warum? Ist
doch nix passiert?«
Oh, ja. Eine ganze Menge war passiert. Und noch mehr würde sehr
bald passieren.
Sein inneres Ohr hörte Lolas Stimme mit dem überzeugenden Tonfall.
»Und dann hab ich den Gustl Jedlitschka angerufen. Der freut sich schon. Seine
Frau und er haben mich vom Fleck weg zum Essen eingeladen.«
Doch die Jedlitschkas waren ahnungslos. Keine verdammte Silbe haben
sie von Lola gehört. Wie konnten sie dann meine Frau zum Essen einladen?
Wieder drückte Joe Ottakring die AUS -Taste.
Grußlos und endgültig beendete er das kurze Gespräch.
Er befand sich am Beginn des grauenvollsten Tags in seinem Leben.
ACHTZEHN
Lautlos schlich Artur Josef, nur mit dem bekleidet, was er
dabei hatte, aus dem Krankenzimmer, aus der Station, aus dem Haus. Jeans,
Pullover, dunkler Anorak, schwarze Wollmütze. Für einen, der früher Tresore
geknackt hatte wie er, war es ein Kinderspiel gewesen, diese läppische Art von
Sperren zu überwinden.
Gesund war er! Vielleicht nicht exakt im medizinischen Sinn. Doch er
war jetzt Freiberufler und hatte sich schlichtweg gesund geschrieben.
Er musste nach dem Everl schauen, das war seine größte Sorge. Er
machte sich auf den Weg.
Jetzt, zur frühen Morgenstunde, als er durch die zum Leben
erwachenden Straßen ging, erinnerte er sich an das Wintermorgengrauen in seinem
Heimatdorf, in Gstadt: bleigrauer Himmel voller Wolken, bitterkalter Wind vom
Chiemsee her, der den Schnee über die Felder fegte, auf dem Wasser hohe Wellen.
Im Vergleich dazu war es heute frühlingsmäßig.
Das Fahrrad, das er klaute, stand unabgeschlossen in einem Carport
neben einem Japaner. Es hatte eine Zwölfgangschaltung. Artur genoss es, in
aller Früh durch Rosenheims Innenstadt, die Südstadt und über die Kufsteiner
Straße aus Rosenheim heraus Richtung Inntal zu radeln. Ab und zu musste er sich
um verwitterte Eisflächen und zusammengeschobene Schneehaufen herumwinden.
Bis er vor seinem kleinen Häuschen mit dem kleinen Garten stand.
Leise schloss er auf.
»Wenn ich den Thronsaal betrete«, erklärte ihm das Everl als Erstes,
»werde ich meine Schleppe verlieren, das Krönchen wird mir über die Ohren und
die Augen rutschen, mein langes Goldhaar wird sich auflösen, und ich werde auf
den gestickten Saum von meinem Kleid treten und der Länge nach auf den
Marmorboden fallen.«
Aus großen Augen, die sich allmählich mit Tränen füllten, sah sie
ihren Großvater an.
»Alle werden in Lachen ausbrechen – die Mam, der Pap, die Omi, und
niemand wird lauter lachen als – du.« Ihr kleiner Zeigefinger durchbohrte ihn
und traf ihn mitten ins Herz. Der Finger zitterte.
»Und dann werde ich aus dem Königspalast rennen und mich kopfüber in
den reißenden grünen Inn stürzen.«
Artur nahm seine Enkeltochter in den Arm und verschloss ihren
kleinen Mund mit einem dicken Kuss. »Du sollst nicht solche Reden führen«,
sagte er. »Alles wird gut. Mein liebes Kind, du bist wunderschön.«
Das Everl schlang die Arme um den Hals ihres Großvaters und drückte
ihre Wange an die seine. Es kratzte. »Du bist auch wunderschön, Opapa.«
Artur unterdrückte ein Grinsen. Immer wieder war er von der Weichheit
ihres Teints fasziniert. Es war der samtene Teint ihrer Mutter, dem Franzerl,
seiner verstorbenen Tochter.
Als er das Everl wieder aus seiner Umarmung entließ, war er
überrascht, den Schimmer einer Träne in ihrem Auge zu sehen.
»Keine Angst«, sagte er zu ihr in einem Ton, als spräche er zu
seinem Steuerberater. »Keine Angst. Deine Zukunft ist gesichert.«
Der stechende
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