Sakramentisch (German Edition)
nestelte an den
Fesseln herum.
»Sie müssen bestimmt zur Toilette. Sie sind nicht eingesperrt. Wir
wollen nur nicht, dass Sie wieder aus dem Bett fallen. Sie können jederzeit
raus.«
Sie richtete sich auf. »Müssen Sie nun aufs Klo oder nicht?«
Das musste er sich erst überlegen. Wie kam eine wildfremde Frau
dazu, ihn zu fragen, ob er bieseln muss? Er wollte raus aus dem komischen
Zimmer und dem fremden Bett. Erinnern konnte er sich an fast nichts.
Unsichere Schatten vagabundierten durch seinen Kopf. Lächelnde
Masken. Grölende Männer. Stichflammen. Ein Karussell schräger Bilder. Doch
langsam fiel es ihm wieder ein. Ein Film lief ab, in Zeitlupe. Der Überfall, ja
klar. Werner. Werner und er hatten auf die Schmuckhändler aus München gewartet.
Viel Geld. Er würde das Everl versorgen können. Und Bernadettes Schulden
bezahlen.
Die Frau war eine Krankenschwester. Und er befand sich in keinem
Gefängnis. Es war ein Krankenhaus.
Die Schwester hatte ihre Brille aufgesetzt und lächelte ihn an.
»Ich will hier raus«, sagte er ruhig. Er fühlte sich prächtig. Er
zerrte an den Fesseln. Was hielt ihn noch hier drin? Weshalb war er überhaupt
hier?
»Seien Sie lieb, Herr Huber. Es ist halb vier Uhr in der Früh, und
Sie sind seit zwei Tagen bei uns. Sie sind einer unserer schwereren Fälle.
Verhalten Sie sich ruhig, sonst muss ich die Stationsärztin rufen. Schlafen Sie
noch ein, zwei –«
»Loslassen!«, kreischte Artur. Er wollte raus.
Er merkte, dass seine Beine nicht gefesselt waren. Er konnte sie
bewegen und heben, wie er wollte. »Zack«, kreischte er und traf die Schwester
mit dem Schienbein am Hinterkopf.
Kurze Pause.
»Zack«, rief die Frau leise und wischte ihm eine. Ins Gesicht. Die
Brille baumelte an ihrem Hals.
In diesem Moment ging die Tür auf, und Hadi Yohl stand vor den
beiden. »Was ist hier los?«, fragte er ruhig.
»Hadi!«, sagte Artur.
Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Auch, warum er hier war. Da fing er
an zu weinen.
Er fuhr nicht über die Bundesstraße nach Rosenheim, durchquerte
nicht das Zentrum von Raubling, was kürzer gewesen wäre. Schneller war der Weg
über die Autobahn, wenn gerade kein Stau war. Ottakring ließ die eindrucksvolle
Wintersilhouette der Alpen hinter sich, nahm die Ausfahrt Rosenheim, überwand
elf rote und eine grüne Ampel und war in gut zwanzig Minuten da.
Das Giornale war eine Trattoria. Viel Holz und blank gewienertes
Aluminium, ein warmer Duft nach Kaffee und Süßem, unkoordiniert durchmischt mit
dem Geruch von Knoblauch und Pasta Genovese.
Gesomina begrüßte ihn mit Bussi links, Bussi rechts. Beim dritten
Bussi drückte sie ihn fest an sich. Das hatte sie noch nie getan.
Es war kurz nach zehn. Frau Weimar war schwer zu entdecken zwischen
all den Damen zwischen dreißig und neunzig an der Bar und drum herum. Zuerst
dachte er, sie wäre noch nicht da. Doch sie selbst hatte ihn offensichtlich
entdeckt.
Eine Frau in rotem Pullover und schwarzer Wollmütze steuerte umweglos
auf ihn zu.
»Herr Ottakring? Klar, Sie sind es. Die schweren Augenlider. Die
eingefallenen Wangen. Der traurige Dackelblick. Ich kenne Sie natürlich aus der
Presse.« Sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Karin Weimar.«
Er drückte ihre Hand, obwohl sie ihn als depressiven Säufer
charakterisiert hatte.
»Da hinten, der kleine Tisch ist noch frei«, schlug sie vor. »Wollen
wir?«
Brav trabte er hinter ihr her. Karin Weimar mochte um die sechzig
sein, doch ihr Hintern unter dem senfgrünen Rock bewegte sich wie bei einer
Kandidatin für »Germany’s Next Topmodel«.
Die Atmosphäre im Giornale gefiel ihm von Mal zu Mal besser. Er
fühlte sich wie im Wohnzimmer guter Freunde. Gesominas Wohnzimmer. Die Kellner
waren aufmerksam, nicht gestelzt, sondern familiär. Die Gäste passten dazu.
Sie nahmen jeder einen Cappuccino.
Karin, aus der Nähe betrachtet, sah aus, wie Elke Sommer heute
aussieht. Ottakring konnte sich gut an die jugendliche Schauspielerin erinnern,
die aus einer fränkischen Pfarrersfamilie stammte und in Hollywood ein Star
wurde. Auch an Frau Weimar konnte man die frühere Schönheit erkennen. Attraktiv
war sie noch immer.
Er ließ sie kommen.
Die erste Frage, die Karin stellte, war eine Wiederholung. Sie
schaute ihn dabei scharf an.
»Wissen Sie, wo Ihre Frau ist?«
Ottakring war darauf vorbereitet. Natürlich hatte Lola ihm
geschildert, wo sie sich an diesem Wochenende aufhalten würde. Vor zwei, drei
Jahren hätte er noch jeden Eid darauf
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