Salai und Leonardo da Vinci 01 - Die Zweifel des Salai
Patzern auf allen Gebieten des menschlichen Wissens. Doch wieder sind alle darauf hereingefallen: Statt diesen Trash so zu behandeln, wie man es seit jeher mit derartigen Genreerzeugnissen tut, nämlich ihn zu ignorieren, haben Kritiker und Zeitungen den Inhalt so sorgfältig untersucht, als handelte es sich um ein seriöses Buch, womit sie ihm Erfolg und vor allem Glaubwürdigkeit bescherten.
Zu Recht misstrauen seither die Leser, denen man diesen Schund auf ihre Kosten untergeschoben hat, jedem Roman, der von sich behauptet, er beruhe auf historischen Fakten. Die Autoren wiederum müssen sich entscheiden, ob sie sich dem Schund anpassen oder das Handtuch werfen wollen.
Wenn der Feudalherr seinen Hofnarren öffentlich sprechen lässt und ihn zum offiziellen Redner ausruft, müssen alle echten Redner ihren Beruf wechseln.
Die einzige Möglichkeit, sich dem alles beherrschenden Trash zu widersetzen, bestand also darin, zu dessen eigenen Waffen zu greifen, jedoch ihre Zielrichtung umzukehren: wie ein Narr zu sprechen, doch mit den Argumenten eines Redners. Wenn jeder beliebige Ignorant gefeiert wird, sobald er den Mund aufmacht, dann hat auch der Simpel Salaì das Recht, zwischen allerlei Albernheiten, Grammatikfehlern und vulgären Derbheiten eine ernste Geschichte zu erzählen. Im Übrigen ist die Umkehrung der Rollen typisch für unsere Zeit: Hat die Romanserie, die in den letzten Jahren weltweit so erfolgreich war wie kein Buch zuvor und von einer bekannten englischen Autorin für Zwölfjährige geschrieben wurde, nicht Millionen erwachsene Leser erobert?
Da war es nicht mehr als recht und billig, diesem unverschämten Lümmel Salaì freie Bahn zu lassen. Nur so konnte Leonardo aus den alten zwanghaften Deutungsmustern befreit werden: auf der einen Seite die unerträgliche, naive Verherrlichung durch die offizielle Geschichtsschreibung, auf der anderen der Sumpf kitschiger Desinformation. Es galt, das Genie Leonardos mit all seinen Begrenzungen wieder glaubwürdig in seine eigene Zeit einzubetten, nämlich jenen besonderen historischen Moment zwischen Humanismus und Renaissance, wo aus den Wurzeln einer bis heute nicht genügend geklärten Vergangenheit, dem Mittelalter, geheimnisvoll die ersten, wenig ruhmvollen Keime der Neuzeit sprossen.
Um die ganze Widersinnigkeit der berühmten Fälschungen, die noch heute für wahr gehalten (oder als wahr ausgegeben) werden, zu entlarven, musste eine weitere, ebenso widersinnige und unwahrscheinliche Fälschung geschrieben werden – die Briefe Salaìs, ein dreister und lächerlicher Betrug wie auch das Tagebuch von Johannes Burkard, an das die Forscher unerklärlicherweise angeblich immer noch glauben.
Es ist unwichtig, dass niemals Briefe von Leonardos Adoptivsohn entdeckt wurden; für uns war entscheidend, die historische Bühne wiederzuerschaffen, und den Geist, der dort herrschte, wiederzubeleben. Nicht zufällig bezieht sich das einzige ernst gemeinte Zitat zwischen den Flunkereien in unserem Vorwort auf die literaturgeschichtlichen Verwandten der Briefe Salaìs: Boccaccio, Pulci, Folengo, Berni und so weiter. Unser alter Universitätslehrer, Professor Nino Borsellino, möge uns verzeihen, dass wir ihn in der Gesellschaft erfundener Kollegen zitiert und zugunsten Salaìs einen Passus aus seiner Abhandlung über Pietro Aretino («Gli anticlassicisti del Cinquecento», Roma/Bari 1973, S. 31) und seine Definition Leonardos als eines «Regellosen» (S. 10) gestohlen haben. Aber trifft seine Analyse, nach der bei den Antiklassizisten «die Welt von unten statt von oben betrachtet, vom physiologischen und instinktiven Grund der Existenz statt von der Oberfläche aus scheinbaren Schönheiten beschrieben wird» (S. 13) – obwohl Folengo, Ruzante und Cellini gemeint sind –, nicht wie maßgeschneidert auf Salaì zu?
Und wenn hinter den Briefen von Leonardos Ziehsohn sogar Machiavelli hervorgeschaut hätte (der Leonardo gut kannte, aber höchstwahrscheinlich nie mit Salaì korrespondiert hat), wäre dies nur ein weiteres literarisches Divertissement gewesen, um den Schlag unter die Gürtellinie zu parieren, den die Professionisten des Trash austeilen.
Abgesehen von der maßlos übertriebenen literarischen Fiktion und ihren polemischen Absichten, ist alles andere in geduldiger Forschungsarbeit anhand von Fakten und authentischen Zeitzeugnissen rekonstruiert worden, um dem Leser jene historische Genauigkeit zu bieten, auf die er ein Recht hat, wie der Leser unserer
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