Sally
schreien können, aber kein Laut drang über meine Lippen.
Bevor es wieder besser werden würde, würde es schlechter werden. Das hatte ich immer geahnt. Ich hatte aber nie geahnt, wie schlecht es noch werden konnte.
Als ich wieder nach draußen kam, saß der Kerl bei Susanne und Eugen an der Theke.
»Da ist sie ja«, grinste er.
Sie hatten gerade über mich gesprochen.
»Ich will ja nicht unromantisch sein, aber kannst du mir noch einmal sagen, wie du heißt?«
»Sally«, antwortete ich und es fühlte sich im ersten Moment merkwürdig an. Bisher hatte ich Freiern und auch Susanne und Eugen meinen richtigen Namen genannt.
Sally hatte ich schon im Englischunterricht in der Schule geheißen. Damals hatten sich alle Kinder, deren Name sich nicht ins Englische übersetzen ließ, einen eigenen englischen Namen aussuchen dürfen.
»Sally«, nickte Susanne und zwinkerte mir zu.
Ich ging und kam nie wieder.
KRATZER
DONNERSTAG, 28. JANUAR 2010, 16:15 UHR. Obwohl es garantiert nur Einbildung war, meinte ich beim Blick aus dem Fenster zur Haustür den dezenten Duft eines Herrenparfums wahrzunehmen. Eben hatte es geläutet, und ich sah routinemäßig nach, wer draußen stand. Schon am Telefon hatte der Mann vornehm geklungen. Seine Sprache war so elegant wie eine französische Herrenuhr in einer Auslage am Wiener Kohlmarkt. Als ich den Türöffner betätigte, war ich dankbar für die geografische Lage meiner Wohnung. Ihre Nähe zu einem Krankenhaus brachte mir viele gute Kunden, vor allem Ärzte und Manager, die alle einen anspruchsvollen Lebensstil pflegten, wenig Zeit für die Liebe hatten und deshalb leicht zufriedenzustellen waren. In meiner eigenen Zeit als Pflegerin im Krankenhaus wäre mir nie in den Sinn gekommen, wie viele Kollegen Geld für Sex ausgaben. Aber damals hätte ich mir auch noch nicht träumen lassen, wie viele Männer das generell taten.
Höflich betrat der Mann meine Wohnung, gerade so, als würde er eine entfernte Verwandte besuchen. Ich hängte seine Jacke in der Garderobe auf. Heimlich roch ich am Stoff und erkannte das Odeur sofort wieder. Ich hätte nicht sagen können, was genau diesen Geruch ausmachte – vielleicht war es der des Lebens oder der des Todes, der von Krankheit oder der von Heilung oder vielleicht kam er auch einfach nur von einem bestimmten medizinischen Desinfektionsmittel – jedenfalls hatte ich mich bei meinem ersten Eindruck nicht getäuscht. Der Mann kam aus dem Krankenhaus.
Mit seinem kahl rasierten Kopf verbarg er seine Stirnglatze und mir fiel auf, dass er gepflegter war, als ein durchschnittlicher Mann zu dieser Tageszeit eigentlich sein konnte. Zu Mittag zeigen sich normalerweise erste Bartschatten, aber die Gesichtshaut dieses Mannes war glatt wie ein Babypopo, als hätte er sich vor dem Haus noch rasch rasiert. Seine Haut sah trotz erster tieferer Falten aus, als würde sie zumindest sieben Mal die Woche professionell gepflegt und seine Hände waren perfekt manikürt. Dennoch schickte ich ihn unter die Dusche. Das war ein Akt der Routine, der mir Sicherheit gibt.
Als er sich mit einer sportlichen Bewegung auf das Massagebett schwang, sah ich seinen glatten muskulösen Rücken. Hut ab, dachte ich.
»Kratzen Sie mich, bitte«, sagte er unvermittelt.
Kratzen?
»Kratzen Sie mich am ganzen Körper mit Ihren Fingernägeln. Fest. Ich mag das.«
Sein Körper wies keinen einzigen Kratzer auf. Ich war ratlos. Dieser Wunsch war mir neu. Ich hätte ihn vom Nacken bis zum Po einfach kratzen können, so wie Mädchen Buben kratzen, wenn sie sich in der Schulpause in die Haare geraten. Ich konnte mir aber kaum vorstellen, dass ihn das glücklich machen würde, und er wirkte wie jemand, der seine Bedürfnisse sehr genau kannte.
Also entschloss ich mich dazu, ihm meine Standardmassage zu verpassen, bloß würde ich mich dabei nicht meiner Handballen und Fingerkuppen bedienen, sondern ausschließlich meiner Fingernägel. Mit ausgestreckten Fingern kratzte ich also über seinen Nacken, seinen Rücken, seine Arme, seinen Po, seine Hoden und Beine, und als er kaum reagierte, wiederholte ich die Prozedur mit mehr Druck. Ich musste dabei aufpassen, dass meine Nägel nicht abbrachen. Er wollte noch mehr Druck, undich versuchte, trotzdem liebevoll zu bleiben. Statt mich an ihm auszutoben und ihm stellvertretend all das anzutun, was ich Männern schon immer einmal antun wollte, kratzte ich ihn mit dem inneren Wunsch, ihn glücklich zu machen.
Äußerlich hinterließ das Spuren
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