Sally
Mann. Alles passierte binnen weniger Sekunden. Er hantierte so geschickt und flink mit der Injektionsnadel wie ich mit meinen Nähnadeln. Vor meinen Augen jagte er sich die Spritze direkt in seinen Penis.
»Ich bin ein alter Mann«, kicherte er dabei. »Ich brauche das, damit sich mein Stock regt.«
Ich schluckte.
»Wie willst du ihn?«, fragte er. »Groß, klein, dick, dünn?«
Ich wollte nur, dass er die Spritze endlich weglegte.
Er zog die Nadel heraus und stieg ungerührt zu mir in die Wanne. Als wäre gar nichts geschehen, plauderte er los. Private Dinge über seine Frau, seinen alten Vater, seinen Sohn, den er immer noch finanzierte, und über seinen Beruf als Architekt. Ganz weich wurde er beim Reden über seine Familie, fast hätte ich ihn sympathisch gefunden. Ich saß mit diesem hässlichen Menschen, der sich gerade kaltblütig eine Spritze in sein Glied gerammt hatte, wie bei einem Kaffeekränzchen in der Badewanne. Vielleicht würde ich ja gleich aufwachen, neben Mario, und alles würde wieder gut sein.
Ich sagte ihm, dass er erst mein zweiter Kunde sei. Ich wollte nicht, dass er mich für eine Professionelle hielt. Ich würde niemals eine Professionelle werden. Doch meine Worte prallten völlig von ihm ab. Als die Spritze allmählich wirkte, verließen wir den Whirlpool. Er zog ein Kondom über und gab mir Anweisungen.
»Leg dich jetzt auf den Rücken. Gut so. Bleib so.«
Sein Penis war von der Spritze noch blutig. Unter dem Gummi sah ich einen dünnen roten Faden.
»Jetzt setz dich drauf und beweg dich ein bisschen«, befahl er mir.
Ich empfand nichts dabei, weder Ekel noch Abscheu. Eine der höchsten Formen der Meditation besteht darin, sich gänzlich aus seinem Körper zu verabschieden. Auch Menschen, die schon an der Schwelle zum Tod gestanden sind, berichten davon. Sie erzählen, wie sie sich selbst aus zwei oder drei Metern Entfernung von oben betrachteten, für alle eine wunderbare Erfahrung.
»Zeig mir deinen süßen kleinen Arsch.«
Er packte meine Pobacken und zog sie auseinander.
Ich schloss die Augen, schloss mich ein. Vermutlich hätte man mir in diesem Zustand ohne Narkose ein Bein amputieren können. Die Schmerzen in meiner Kindheit waren gute Lehrmeister gewesen. Wer täglich Schmerzen hat, lernt Abstand von seinem Körper zu nehmen und mit seiner Seele zu reisen.
»Dreh dich um und sieh mich an, du geile Sau.« Die Haare klebten an seinem Kopf und er roch säuerlich. »Mach die Augen auf.« Heftig stieß er in mich.
Einmal war ich wegen des Verdachtes auf Multiple Sklerose im Krankenhaus gewesen. Die wiederholten Entzündungen des Sehnervkopfes hatten die Ärzte darauf gebracht. Mit einer Injektion direkt ins Auge wollten sie einen Nerv, der von der Netzhaut weiter ins Gehirn verläuft, ruhigstellen. Als der Arzt die Spritze setzte, musste ich die Augen weit offen lassen. Ich musste mich neuerlich über alle Angstreflexe hinwegsetzen. Der Fluchtweg nach innen war mir diesmal abgeschnitten.
»Mach die Augen auf.«
Ich sah ihn an. Das hässliche Antlitz meiner eigenen Krise.
Ich war wehrlos, und dennoch konnte er mir nichts tun. Ich war betäubt und trotz meiner offenen Augen unendlich weit weg von ihm.
Er wimmerte ein wenig, als er endlich kam.
»Du brauchst mir nicht zu erzählen, dass du keine Professionelle bist«, sagte er hinterher.
»Warum?«, fragte ich.
»Deine Augen sind eiskalt.«
4
MAI 2009. Meine Beziehung zu meinen Fingernägeln veränderte sich. Ich trug sie jetzt sehr lang und ließ sie mit Acryllack verstärken. Im Alltag störte mich das nach einiger Übung gar nicht mehr. Mit meinen geübten Händen konnte ich Knöpfe trotzdem leicht öffnen und schließen. Nähen und meine Hausarbeit erledigen, war auch kein Problem. Der Trick dabei war simpel. Ich griff einfach nur mit flachen Bewegungen zu. Lange Fingernägel waren für mich immer die Insignien der Weiblichkeit gewesen. Außerdem machten sie meine kleinen Hände größer.
Meine Kunden mochten sowohl ihr Aussehen als auch die Regungen, die ich damit auf und unter ihrer Haut erzeugen konnte. Lange Fingernägel hatten eine ganz andere Berührungsintensität als eine Handfläche, Fingerspitzen oder Brüste. Ich setzte sie sehr geschickt und vorsichtig ein, um niemanden an einer empfindlichen Stelle zu verletzen. Für alle Fälle hatte ich bald immer eine spezielle Ärzteseife und ein Spray zum Desinfizieren dabei.
Die Termine plante ich immer dienstags ein, abhängig davon, wann meine Kunden Zeit
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