Sally
hatten. Wenn Mario keine Zeit für die Kinder hatte, brachte ich sie bei meiner Mutter unter. An allen anderen Tagen arbeitete ich mit Hingabe in meiner Schneiderei. Niemand ahnte etwas.
Ich nahm mir vor, ausschließlich auf Inserate zu antworten, nicht aber eigene zu schalten. Zusätzlich legte ich ein Büchlein mit den Telefonnummern und Adressen meiner Kunden an.
Die Männer, die sich im virtuellen Raum tummelten, stammten aus praktisch allen sozialen Schichten. Anfangs dachte ich noch, sie alle wären einfach nur hungrig nach schnellem, hartem Sex. Doch allmählich wurde mir immer klarer, dass der körperliche Akt nur die eine Sache war. In Wirklichkeit sehnten sich diese Männer nach Zärtlichkeit. Sie alle vermissten Aufmerksamkeit. Sie vermissten es, von jemandem gesehen, gehört und vor allem berührt und liebkost zu werden. Die meisten von ihnen standen voll im Leben. Viele bekleideten irgendein Amt oder leiteten Unternehmen. Doch wenn sie nackt vor mir standen, erweckten sie alle diesen hilflosen Eindruck. Oft verstand ich nicht, was diese fremden Menschen in meiner Gegenwart spürten, aber mit der Zeit wurde mir klar, wie sehr sie mir vertrauten. Auf eine bestimmte Art öffneten sie mir ihr Herz und ich behandelte sie mit Respekt. Die meisten kamen wieder. Sie suchten meine Nähe. Menschen hatten schon immer meine Nähe gesucht, nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Ich hatte den Eindruck, dass sich dieses Phänomen noch verstärkt hatte, seit ich zwischen den Mühlen meiner scheiternden Existenz aufgerieben wurde. Vielleicht wuchs diese Energie auch in dem Ausmaß, in dem ich Liebe gab und selbst welche zurückbekam. Denn auch von meinen Kunden, die sich öffneten und denen ich etwas von mir gab, kam etwas zurück, nicht nur Geld, sondern auch so etwas wie Dankbarkeit und Freude.
Vielleicht waren das auch nur meine eigenen Illusionen. Vielleicht schützte ich mich damit vor der Erkenntnis, dass ich letztendlich eine ganz normale Hure geworden war. War ich das? War ich nicht einfach eine ganz normale Frau? Suchte ich vielleicht auch in diesem Abgrund in Wahrheit nur nach Liebe? Ich wusste keine Antwort auf diese Fragen.
Ich lebte von einem Tag zum anderen, von einer offenen Rechnung zur nächsten und letztendlich ohne Plan und Perspektive, es sei denn mit jener, dass ich mich noch immer nichtaufgegeben hatte. Ich suchte noch immer, erprobte mich noch immer und wollte noch immer lernen. Ich kämpfte weiter, und wenn ich lange genug durchhielt, würde ich eines Tages vielleicht wieder genug Boden unter den Füßen haben, um mich fort in ein neues Leben bewegen zu können. Wie auch immer dieses Leben dann aussehen würde … Dabei merkte ich zuerst gar nicht, wie ich allmählich tiefer und tiefer sank.
Als meine Kunden immer öfter über die hohen Zusatzkosten fürs Hotel murrten, suchte ich nach einem Ausweg. Im Internet entdeckte ich die Anzeige einer Susanne, die offiziell einen Saunaclub mit Zimmervermietung betrieb. Wie ich später herausfand, handelte es sich im Prinzip um ein Schwulen- und Transenlokal und Susanne selbst war eine registrierte Prostituierte. Sie bot zwei Kämmerchen ihres Klubs zur Vermietung an. Das kleinere, das mit einem Massagetisch ausgestattet war, kostete fünfundzwanzig Euro die Stunde, das größere, das über ein wackeliges Doppelbett und eine Duschkabine verfügte, dreißig. Wer das kleine Zimmer gebucht hatte und trotzdem duschen wollte, konnte das hinten in der Sauna tun – für fünf Euro extra. Susanne umging mit ihrem Geschäftsmodell geschickt die in Wien verbotene Zuhälterei. Sie hatte auch gemeinsame Werbung mit ihren »Mieterinnen« im Angebot, für hundertzehn Euro im Monat. Ein Fotoshooting wäre inbegriffen gewesen. Bloß kannte ich die einschlägigen Webseiten inzwischen schon und inserierte dort selbst. Mittlerweile fand man mich zwischen den Lolas, Nataschas und Biancas dieser Welt. Manchmal fragte ich mich, ob jemand anrufen und mich für den Direktvertrieb abwerben würde, um meine Seele zu retten. Ich hätte nicht gewusst, wie ich reagiert hätte. Aber ausgelacht hätte ich so eine Person bestimmt nicht.
Die Zimmer dieser Susanne interessierten mich. Ich fuhr zur genannten Adresse wie zu einem Vorstellungsgespräch bei einer Computerfirma. Eine mit bunten Lichtern eingerahmte Tür führte von der Straße in den Keller hinab. Sauber restaurierte Antiquitäten standen herum. Die Mahagoni-Bar passte nicht richtig dazu und es roch nach
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