Sally
mir besser ging, schien es allen besser zu gehen. Georg hatte seine erste Schularbeit mit einer Zwei bestanden. Die Schneiderei machte mir auch wieder mehr Spaß. Manchmal nähte ich bis in den frühen Morgen hinein. Ich brauchte kaum Schlaf.
Mit Mario lebte ich weiterhin in einer Zweckgemeinschaft, in der freilich die Verteilung der jeweiligen Vorteile unausgewogen blieb. Wenn wir uns zufällig begegneten, was selten genug der Fall war, verhielten wir uns einigermaßen höflich. Es war trotzdem, als lebte ich mit einem Gespenst zusammen. Der Unterschied war bloß, dass die Spuren, die er als Mitbewohner hinterließ, nicht wie nächtlicher Spuk von selbst verschwanden. Für ein Gespenst war Mario auch ziemlich teuer.
Ich hatte mir inzwischen eine kleine neue Oase des Rückzugs geschaffen. Es handelte sich um ein kleines Nagelstudio im zweiten Bezirk. Dort gönnte ich mir ab und zu eine professionelle Maniküre, zu der ich Cappuccino mit viel festem Milchschaum bekam. Für mich fühlte sich das an wie mein persönliches Schlaraffenland.
Christina, die Maniküre, kannte ich seit zwanzig Jahren. Sie stammte aus der Nähe von Wiener Neustadt. Wir unterhielten uns meistens über den Haushalt, die Schule und die Kinder. Sie hatte drei Jungs, die alle schon im Teenageralter waren.
»Christian ist zur Zeit schwer zu bändigen«, plauderte Christina und pinselte den Acryllack sorgfältig auf die Nägel meiner rechten Hand, während der Lack auf der linken unter einer speziellen Blaulichtlampe aushärtete. »Er will jetzt wie alle Jungs in seiner Klasse einen Bergsteigerkurs machen. Klettern ist bei ihnen im Moment total angesagt.«
Mein Gewissen reagierte sofort. Ich war mit meinen Kindern schon so lange nicht mehr im Urlaub gewesen.
»Was das wieder kostet«, ächzte Christina.
Sie tauchte den Pinsel in das Fläschchen mit dem kirschroten Lack, den ich mir zuvor ausgesucht hatte, und trug die Farbe umsichtig auf. Sie arbeitete akribisch. Jeden Nagel färbte sie mit drei sicheren Pinselstrichen ein. Es beruhigte mich, ihr dabei zuzusehen. Ich vergaß zu blinzeln, die Konturen wurden unscharf und meine Gedanken dafür klar. Ich konnte abschalten wie bei einer Meditation.
»Rucksack, Seile, Schuhe, Fingerschoner, Haken. Das ist keine Kleinigkeit«, jammerte Christina. »Einen Schlafsack und ein Zelt brauchen sie auch, wenn sie im Camp übernachten.«
Christina sah kurz auf und lächelte liebevoll.
»Für meine Söhne ist es halt die Freude am Abenteuer.«
Mit einem Schlag schämte ich mich, dass ich hier saß und mich verwöhnen ließ. Vielleicht hätte ich das Geld für die Maniküre doch lieber sparen sollen. Wann hatte ich Georg jemals gefragt, ob er nicht mit seinen Freunden ein bisschen Extrasport machen wollte? Anke wünschte sich sicher modische Schuhe, wie sie auch all die anderen Mädchen in ihrer Klasse trugen. Während es sich Mario auf meine Kosten gut gehen ließ und ich nach Wegen der Befreiung von ihm suchte, ging es bei den Kindern immer nur um das Notwendigste. Die Erkenntnis, wie ignorant wir ihren Bedürfnissen gegenüber gewesen waren, traf mich wie aus dem Nichts. Die Nägel hätte ich mir auch selbst feilen und anmalen können, dachte ich.
»Und wie gefährlich diese Bergsteigerei ist.«
Zufrieden begutachtete Christina ihr Werk.
»Erst vor ein paar Tagen ist in Südtirol eine ganze Bergsteigertruppe verunglückt«, sagte sie. »Die Fotos in der Zeitung waren schrecklich, hast du die gesehen, Elke? Wie es da wohl den Angehörigen geht.«
Ich hatte zuerst nicht richtig hingehört, aber dann schoss auf einmal der Schweiß aus allen meinen Poren und meine Bluse klebte am Bauch und am Rücken meiner Haut fest. Mein Herz schlug hart gegen meinen Brustkorb.
Thomas war nach Südtirol gefahren.
Meine Nägel waren erst halb trocken. Meine Hände sahen aus wie zwei schmale Fächer mit blutroten Enden und sie zitterten.
»Alles okay?«
Christina war erstaunt, als ich hastig zahlte und fluchtartig aufbrach. Ich musste an die frische Luft. Ich brauchte einenklaren Kopf. Thomas war nur ein Kunde. Ich musste mich endlich wieder unter Kontrolle kriegen. Mein Leben waren meine Kinder. Und eine Maniküre war definitiv das Letzte, was ich mir in meiner Situation leisten konnte und durfte. Ich versteckte meine Nägel tief in den Manteltaschen und machte mich rasch auf den Heimweg. Ich wollte nur noch nach Hause.
MALZBONBONS
DIENSTAG, 23. MÄRZ 2010, 14:30. Zum Glück läutete Alois pünktlich. Er war der
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