Salomes siebter Schleier (German Edition)
d’être.
Nach dem erzwungenen Rückzug aus dem College verbrachte Ellen Cherry ganze Tage in ihrem Zimmer und weinte. Währenddessen fochten Patsy und Verlin unten im Wohnzimmer erbitterte Kämpfe aus. Verlin nannte Patsy eine Dirne, eine Mutter, die ihrer Tochter nichts als Lüsternheit beibrachte. Patsy nannte Verlin einen Heuchler, der Lüsternheit genoss, aber nicht Manns genug war, es zuzugeben.
«Gott hat meinen Körper geschaffen», sagte Patsy. «Ich schäm mich nich, wenn ich nackig bin.»
«Na prima», sagte Verlin. «Warum ziehst du dich dann nich aus, und ich lad meine Freunde ein, rüberzukommen und Bilder von dir zu malen.»
«Deine Freunde könnten nich mal ’ne Scheißhauswand anstreichen!»
Patsy führte an, dass sie hätte Tänzerin werden können, wenn er nicht gewesen wäre. Verlin erwiderte, sie könne auf die Knie fallen und ihm danken, dass er sie vor dieser Schande bewahrt habe.
Irgendwann hörte Ellen Cherry Verlin sagen: «Sie hat sich jetzt verdammt noch mal ’ne ganze Woche lang da oben eingeschlossen. Wann kommt sie eigentlich wieder runter?»
«Oh, wahrscheinlich, wenn ihr Gesicht verheilt ist», gab Patsy zurück.
«So schlimm is es ja nun auch wieder nich mit ihrem Gesicht. Wir haben sie gereinigt, zum Teufel, nicht gehäutet!»
«Auf alle Fälle kann sie runterkommen, wann immer ihr danach is. Sie is frei, weiß und achtzehn.»
Stimmt
, dachte Ellen Cherry und saß plötzlich kerzengerade in ihrer tränenverschmierten Bettwäsche, aufgeschreckt von der Erkenntnis dessen, was doch auf der Hand lag. «Sie hat recht!»
Als sie sicher war, dass Johnny Carson die Show für diesen Abend beendet hatte, schlich sie hinunter – Verlin lag im Schlafzimmer und schnarchte wie ein Alligator, Patsy wälzte sich auf dem Sofa hin und her – und machte sich ein Omelett aus vier Eiern, das sie mit dem einzigen Alkohol im Haus, dem für Patsys englischen Kuchen bestimmten Brandy, hinunterspülte.
Am Morgen tauchte sie in der Schweißbrennerei auf, wo sie Boomer irgendwie überredete, ihr fünfhundert Dollar zu leihen. Vielleicht drohte sie ihm, seinen Saufkumpanen zu erzählen, dass er heimlich Tango-Unterricht nahm. Vielleicht bohrte sie ihm auch die Zunge ins Ohr.
Um Mitternacht schlich sie wieder hinunter. Patsy war ins Schlafzimmer umgezogen, Verlin schnarchte auf dem Sofa. Eine Weile stand sie vor ihrem Vater. Sein rosiges Gesicht, das auf einem Teich süßen Vergessens trieb, erinnerte sie an eine Wasserlilie von Monet. Sie kam zu der Erkenntnis, dass er ein zwar ehrenhafter, aber von Dogmen verknöcherter Mann war. Patsy und Onkel Buddy stritten sich um seine unschlüssige Seele. Buddy lag in Führung. Trotzdem hätte Ellen Cherry Boomers fünfhundert auf Patsy gesetzt. Als sie sich herabbeugte, um ihn auf die Wange zu küssen, stieg ihr ein muffiger Geruch in die Nase, und sie überlegte es sich anders.
Ellen Cherry stieg in den nächsten Greyhound, der in Colonial Pines hielt. Das war um vier Uhr morgens. Er brachte sie nach Cincinnati. Von dort trampte sie weiter, Richtung New Mexico, um irgendetwas Albernes und Romantisches zu tun, ihre Staffelei neben Georgia O’Keeffes Grab aufzustellen oder so was. Sie hatte jedoch nicht mit den Irrwegen des Lebens auf der Straße gerechnet und landete schließlich in Seattle, wo sie sich genötigt sah, ihr Augenspiel so zu modifizieren, dass es den sprühenden Regenschleiern gerecht wurde.
Obwohl sie nachts als Kellnerin arbeitete, schaffte sie binnen drei Jahren ihren Abschluss auf dem Cornish College of the Arts. Nur in einer Hinsicht beeinflusste das Examen ihr Schicksal: Jetzt konnte sie ihre Mitgliedschaft bei den «Daughters of the Daily Special» beantragen, einer örtlichen Vereinigung von Kellnerinnen mit Hochschulabschluss. Mit relativ hohen wöchentlichen Abgaben und zusätzlichen Geldern, die sie sich verdienten, indem sie Autowäschen im Bikini anboten oder Kuchen verkauften, den sie größtenteils in den Restaurants geklaut hatten, wo sie arbeiteten, brachten die Daughters einen Fonds zustande, der verdienten Mitgliedern Stipendien bewilligte, sodass diese die Möglichkeit erhielten, das Tablett an den Nagel zu hängen und sich eine Weile ihrer eigentlichen Berufung zu widmen. Als Ellen Cherry ihr Stipendium bekam, malte sie sechs Monate hintereinander. Die fertigen Arbeiten wurden in einem Restaurant ausgestellt. «Ich bin entkommen, meine Bilder nicht», sagte sie zu den anderen Mädchen. Vielleicht war es die
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