Salomes siebter Schleier (German Edition)
glücklichste Zeit ihres Lebens.
Mehrere Jahre lang wurde Seattles Kunstszene, genau wie die in New York, von der Schule der «großen hässlichen Köpfe» beherrscht. Händler und Sammler, die zu unsicher waren, um sich gegen die Mode aufzulehnen, sahen sich gezwungen, ihre Wände mit kantschädeligen Porträts von aggressiven Opfern der Großstadtangst zu schmücken: jenen zornigen und gequälten Sauertöpfen, für die das nächste Plutoniumklistier offenbar schon bereitlag. Im Hintergrund sah man unweigerlich brennende Gebäude, Totenköpfe und gekreuzte Knochen oder tollwütige Hunde mit erigierten Schwänzen. Zum Glück dreht sich die Welt der Kunst meistens recht schnell um ihre geldgeschmierte Achse, und – BUMS ! – waren von einem Tag auf den anderen Kunstkenner wieder an Integrität, Vision und Technik interessiert. Vielleicht aus einer gewissen Nostalgie heraus, aufgrund der unbewussten Sehnsucht nach einer Natur, die nicht durch Umweltverschmutzung und Nutzbarmachung zum Untergang verdammt war, nahm man zum ersten Mal seit der großen Depression die Landschaftsmalerei wieder ernst. Und begann Ellen Cherry die Tür einzurennen.
Sicher, sie malte Schachtelhalme, die aus dem Bug eines Fährschiffes sprossen, sicher, ihre Bäume waren Kringel im Raum, ihre Berge himmelblau und ihre Himmel so braun wie Gestein: Dennoch handelte es sich unverkennbar um Landschaften, und sie fanden ein Publikum. Ellen Cherry hatte keine Schickeria-Galerie und nicht die elegantesten Mäzene, aber sie wurde lanciert, wie es so schön heißt, und reduzierte ihre Arbeit im War on Tuna Café auf zwei Schichten pro Woche.
So stellte sich ihre Situation mehr oder weniger dar, als Boomers Truthahn in Seattle auftauchte.
I & I
Als Boomers Vater auf den Ruhestand zuging, hatte er sich ein Airstream-Wohnmobil gekauft, in der Hoffnung, er und seine Frau könnten ihre goldenen Jahre kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten tourend verbringen. «Mit diesem Prachtstück zockeln wir vom Atlantik bis zum Pazifik», verkündete er. «Ohne eine einzige von unseren Lieblingssendungen im Fernsehen zu verpassen», setzte Mrs. Petway hinzu.
Dann aber, mitten in seiner Pensionierungsfeier, auf dem Höhepunkt der Stimmung, war Mr. Petway plötzlich tot zusammengebrochen. Seine Witwe verkaufte das Haus und zog zu ihrer Schwester, nicht ohne zuvor Boomer das Wohnmobil zu überschreiben.
«Was zum Teufel soll ich mit einem acht Tonnen schweren silbernen Ei anfangen?», fragte sich Boomer.
Die Metapher traf ins Schwarze. Abgesehen davon, dass es ein Cockpit mit Lenkrad hatte, sah das Airstream-Wohnmobil genauso aus wie der ovoide Ableger eines metallenen Lindwurms, wie das hartgekochte Eichen, das sich die Freiheitsstatue zum Frühstück pellen würde. Silbern glänzend wie Sterngefunkel, knollig wie eine Tümmlernase, glich der Airstream einer in die Länge gezogenen Erbse, einer Bohne, einer quecksilbergefüllten Wurstpelle, einem Zeppelin, einer Zitrone, dem Football der Titanen.
Jeden Morgen, bevor er zur Arbeit ging, stand Boomer mit den Händen in den Taschen in seiner Einfahrt, musterte den Airstream und schüttelte den Kopf. An manchen Tagen, wenn er nicht verkatert war oder spät dran oder gar beides, umkreiste er ihn und zeichnete mit dem lahmen Fuß seine Umrisse im Staub nach. Eines Morgens kam ihm eine wahnwitzige Idee. Von da an musste er jedes Mal, wenn sein Blick auf das Wohnmobil fiel, an diese Vorstellung denken.
So ging es ungefähr ein Jahr, bis er eines Freitagmorgens in einer Stimmung aufwachte, die man am treffendsten als opernhaft bezeichnen könnte. Überdreht, melodramatisch, vor Energie sprühend, in einer theatralischen, fatalistischen Ouvertürenwolke schwebend, vertrieb er die Sopranstimme, mit der er die Nacht verbracht hatte, griff sich ein Sechserpack und lenkte das Wohnmobil zur Schweißbrennerei, wo er, ohne sich um irgendwelche Arbeitsaufträge oder den Spott seiner Kumpel zu kümmern, einen Monat damit verbrachte, ein Paar überdimensionale Truthahnschlegel und zwei plumpe Flügel aus Metall anzufertigen, die er dann an den entsprechenden Stellen ans Wohnmobil schweißte.
«Da», sagte Boomer, «sieht er nicht haargenau aus wie ’n echter Truthahn?»
«Er ist süß», sagten die Mädchen. «Wie ist dir das bloß eingefallen?» Und kicherten nervös.
«Da hast du ein verflucht teures Ding für nichts und wieder nichts demoliert», beschuldigten ihn seine Kumpel. Und schämten sich für
Weitere Kostenlose Bücher