Salomes siebter Schleier (German Edition)
als könnte jeden Augenblick ein satter Schwall Sauce auf ihn niedergehen.
Der Truthahn birgt in seinem rundlichen Inneren eine beachtliche Menge unseres primitiven heidnischen Gepäcks.
Primitiv? Heidnisch? Wir? Wir mit unseren Lasern, unseren Mikrochips, wir mit unseren christlich-theologischen Seminaren und
Time
-Magazinen? Na sicher. Nehmen nicht zweimal im Jahr Millionen und Abermillionen von uns kybernetisch geschulten Christen und faxgewohnten Juden an einer rituellen, hochgradig stilisierten Zeremonie teil, in deren Mittelpunkt ein großer toter Vogel steht?
Und wird dieses Tier nicht geopfert wie in uralten Zeiten, um die Aufmerksamkeit eines göttlichen Geistes zu erwecken, Dankbarkeit für erwiesene Gnade zu bezeugen und zukünftigen Segen zu erflehen?
Der Truthahn wird geschlachtet und langsam über gas- oder stromgespeisten Feuern geröstet. Er ist der Mittelpunkt unseres heiligen Festes. Er ist das Totemtier, das unseren Stamm zusammenbringt.
Und weil es ein merkwürdiges und eigensinniges Geschöpf ist, begründet und fördert das Tranchieren eines Truthahns die Stammeshierarchie. Es gibt nur zwei Schlegel, zwei Flügel, eine bestimmte Menge weißes und ein begrenztes Quantum dunkles Fleisch. Wer welches Stück bekommt, ja sogar wer den Vogel zerteilt und seine Glieder und Organe den anderen vorlegt, unterstreicht auf anschauliche Weise, welchen Rang jedes Mitglied der Versammlung innehat.
Denken wir daran, dass die Schlegel dieses Vogels in Amerika «drumsticks» heißen, nach den rituellen Objekten, die verwendet wurden, um dem ursprünglichsten und heiligsten aller Instrumente Musik zu entlocken. Unsere Vorfahren betrachteten ihre Trommeln als Allgemeinbesitz, die Stöcke aber, von denen eine aktive Magie ausging, wurden gewöhnlich an Orten gehütet, die nur dem Schamanen, dem Medizinmann, dem Hohepriester oder der weisen alten Frau bekannt waren. Der Flügel des Vogels ist ein Symbol für den Auftrieb der Seele, mit dem Schlegel aber beschwört man den Rhythmus, den Puls, den Herzschlag des Universums.
Wenige von uns beteiligen sich heute noch an der eigentlichen Jagd und Erlegung des Truthahns, doch wir alle beobachten, zuweilen tief bewegt, die alltägliche Neuinszenierung dieses alten Brauchs. Wir verfolgen sie im Fernsehen, unmittelbar vor dem gemeinsamen Mahl. Denn was sind Footbälle anderes als metaphorische Truthähne, die über eine Wiese flattern? Und was ist ein Touchdown, wenn nicht ein Abschuss, erzielt von einem der beiden feindlichen Stämme? Unter unserem Applaus erlegen großartige junge Jäger aus Alabama oder Notre Dame den Vogel. Dann ruft uns die weise alte Frau in Gestalt der Großmutter an den Tisch, wo wir in der Überzeugung, unsere primitiven Verhaltensweisen längst abgelegt zu haben, den Vogel gierig in Stücke reißen.
War Boomer Petway sich über diese totemistischen Implikationen im Klaren, als er, um seine Geliebte zu beeindrucken, das überdimensionale Kernstück des Erntedankfests anfertigte? Nein, bewusst sicher nicht. Wenn der letzte Schleier fiele, würde er vielleicht verstehen, was er sich da zusammengebastelt hatte. Im Augenblick aber war er ebenso ahnungslos wie Can o’ Beans, Spoon und Dirty Sock, bevor Conch Shell und Painted Stick ihr Bewusstsein für derartige Phänomene schärften.
Und doch war es Boomer, der den garen Braten quer durch Idaho lenkte, über die natürliche Messerschneide der Sawtooth Mountains bugsierte und ein- oder zweimal an Rastplätzen in der Wildnis parkte, wobei die Flora in der Umgebung die Funktion der Petersilie übernahm.
I & I
Randolph «Boomer» Petway war Schweißer von Beruf. Er war sieben Jahre älter als Ellen Cherry Charles, kräftig, dunkel und auf seine breitgesichtige, dümmlich grinsende, brutale Art sogar gut aussehend. Er trank viel, lachte viel und humpelte ein bisschen, seit ihm bei einem Unfall in der Schweißbrennerei ein Stück Eisen den Knöchel zerschmettert hatte. Trotz dieser Behinderung tanzte er exzentrischer zum Country Rock als jeder andere Mann im Zentrum Virginias. Ein diesbezüglicher Fachmann, der hinter der Theke seiner Stammkneipe arbeitete, meinte, wenn Boomer tanzte, sähe er aus wie ein Affe auf Rollschuhen, der mitten im Hurrikan mit Rasierklingen jongliert.
«Er hat wirklich nicht alle Tassen im Schrank», berichtete Ellen Cherry ihrer Mutter. «Aber ich muss zugeben, es macht tierisch Spaß mit ihm.»
Was Ellen Cherry, abgesehen von seiner «affenartigen
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