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Salomes siebter Schleier (German Edition)

Salomes siebter Schleier (German Edition)

Titel: Salomes siebter Schleier (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Robbins
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Brise hüllt sich in Schwangerschaftskleider, und die erschöpften Städter haben angesichts des ständigen Geblinzels und Gesäusels ihre Schutzmechanismen fallen gelassen. Kurz vor Einbruch der Dämmerung steuert ein Schwarm kanadischer Wildgänse über Manhattan und verursacht ein Hupkonzert, das um ein Haar sämtliche Autobatterien der Stadt geleert hätte. Millionen verrenken sich den Hals, um den Flug der Gänse zu verfolgen, und als der Schwarm im Dunst verschwindet, packt ein uralter Rausch das kollektive Unterbewusstsein. Alle Welt scheint nun leicht beschwipst von Gänsewein.
    Ellen Cherry spürt die weibliche Wildheit in den Straßen, noch bevor sie das Apartment verlässt. Vom zehnten Stock des Ansonia wirken die Neonlichter wie Flecken verschmierten Lippenstifts, und in dem wirren Lärm, der vom Broadway heraufdröhnt, klingt ein kaum hörbares Schnurren mit. Es ist, als habe jemand Blütennektar, Mondmalz und Gänsegrog in die übliche Freitagabendmischung aus Kommerz und Kultur, Liebe und Verbrechen, Luxus und Elend gerührt: Ellen Cherry kann sie schmecken, als sie das Fenster einen Spalt weit öffnet. Sie schiebt es weiter hoch und trinkt einen größeren Schluck. Es ist eine Nacht voller Verheißung, eine Nacht, in der alles Mögliche passieren könnte, und plötzlich kann sie es kaum erwarten, hinauszukommen.
    «New York hat ein Tamburin verschluckt», sagt sie. Sie weiß nicht viel mehr über Tamburine als das, was sie vor kurzem gehört hat, aber sie ist sich bewusst, dass diese ungezähmte weibliche Musik heute Abend im Isaac & Ishmael’s erklingen soll, wo sie in der Spätschicht arbeiten wird, von neun bis drei. Wie sich herausstellt, ist ihre Metapher sehr treffend, obgleich sie sie schon wieder vergessen hat, als sie noch einmal zur Garderobe im Flur zurückkehrt, um den Mantel aufzuhängen, den sie nicht brauchen wird (inwieweit die Erlösung von diesen dicken Winterklamotten zu der beschwingten neuen Stimmung der Stadt beigetragen hat, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden).
    In dem Augenblick, als Ellen Cherry die Wohnung verlässt, rührt sich ganz unerwartet etwas in der Wäscheschublade. Die Schublade steht einen Spalt offen, und auch Spoon hat die Faszination und Verheißung dieses Aprilabends gespürt.
     
    Daruma beobachtet sie. Sie zittert wie ein Kokainsüchtiger bei einem Einstellungsgespräch. Auf der Spitze des Griffs balancierend, springt sie immer wieder so hoch in die Luft, dass sie über den Rand der Schublade spähen kann. Sie springt, zögert und zittert. Springt, zögert und zittert.
    «Kamikaze», flüstert der Vibrator.
    «Kamikaze?»
    «Himmlischer Wind.»
    Sie springt, zögert und zittert. «Himmlischer Wind?»
    «Spring», sagt er. «Spring mit dem Wind. Riskiere alles. Du hast nichts zu verlieren. Spring.»
    Spoon springt.
    Geräuschlos landet sie auf dem Läufer vor dem Bett. Rappelt sich auf. Sieht sich um. Hüpft auf die Handtasche zu, die Ellen Cherry neben der Tür auf der Erde hat liegen lassen.
    Das Letzte, was sie hört, als sie tief eintaucht in das Durcheinander von Schlüsseln, Kleingeld, Kleenex und Boomers Briefen, postjezabelianischer Kosmetik und alten, aus Zeitschriften herausgerissenen Fotos von Georgia O’Keeffe, ist das wahnsinnige Gelächter des heidnischen Beglückers.
     
    Die Handtasche einer durchschnittlichen Frau wiegt ungefähr ein Kilo. Das Herz einer durchschnittlichen Frau wiegt ungefähr zweihundertfünfzig Gramm. Das Gewicht eines Tamburins liegt irgendwo dazwischen, ein bisschen näher beim Herzen als bei der Handtasche.
    Als Ellen Cherry ins Schlafzimmer zurückkehrt, greift sie nach der Handtasche und wühlt darin. Mehrmals berührt ihre rechte Hand – die mit dem verbannten Ehering – den Löffel oder stößt ihn beiseite, ohne es zu merken. Kann eine Frau, die nicht einmal den Inhalt ihrer Handtasche kennt, wissen, was in ihrem Herzen los ist?
    Ellen Cherry nimmt ihre Schlüssel, zwei U-Bahn-Münzen und ein Döschen Lipgloss heraus. Diese Gegenstände steckt sie in die Tasche ihres gelben Wollkleids, des Betsy-Johnson-Kleids mit dem überdimensionalen Reißverschluss. Die Tasche wirft sie aufs Bett. In dieser frühlingstrunkenen Aprilnacht wird sie mit leichtem Gepäck unterwegs sein. Und Spoon soll offensichtlich zu Hause bleiben.
    Spoon wartet in der Handtasche, bis sie sich sicher ist, dass Ellen Cherry das Gebäude verlassen hat. Dann zwängt sie sich heraus, sehr beneidet von einem Regenumhang aus Plastik,

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