Salomes siebter Schleier (German Edition)
der seit Jahren auf dem Grund der Tasche schmachtet. «Sie w-wird mich n-nie t-tragen», schluchzt der Regenumhang. «Ich p-passe nicht ü-über all das H-Haar.»
«Nur Geduld, mein Lieber», tröstet ihn Spoon. «Wie mein Freund Can o’ Beans immer sagt, die Welt ist ein ziemlich seltsamer Ort, und die Karten werden immer wieder neu gemischt.»
Nun, da sie die Bohnendose zitiert hat, käme sie sich wie eine Heuchlerin vor, wenn sie in die Wäscheschublade zurückklettern würde. Sie fühlt sich ohnehin schon wie eine Heuchlerin, da sie zur Geduld rät, obwohl sie selbst die Geduld längst verloren hat.
Kann es sein, dass bestimmte unbelebte Objekte ganz gegen ihre Natur immer ungeduldiger werden, je näher es auf die Jahrtausendwende zugeht?
, fragt sie sich.
Und wenn ja, ist das eine theologische oder eine säkulare Frage?
Spoon sieht sich im Zimmer um. Die Bahnen des Mondlichts gleiten durch das Fenster wie eine Flotte weißer Cadillacs. Ohne nachzudenken schnellt sie mit einem Satz vom Bett aufs Fensterbrett. «Liebe Güte!», keucht sie, fasziniert und erschrocken zugleich. Unter ihr, weit, weit unter ihr, pulsieren Farbe und Klang in den vom April überraschten, sonst so starren Straßen. Die warme Luft fließt an ihr herab wie das duftendste Spülwasser, das sie je genossen hat. Auch die Lichter der Stadt beglänzen sie, beleben ihr klassisches Profil, tauchen sie in eine andere Art von Bad. Der ohrenbetäubende Lärm macht sie konfus. Die Höhe schwindlig. Sie kommt sich vor wie ein regloser Stern in einem wirbelnden Himmel.
«Kamikaze!»
«Wie bitte, Sir?»
Spoon dreht sich halb um, um verstehen zu können, was der Vibrator ihr aus der Schublade zuruft, rutscht aus und stürzt vom Sims hinab in die weite, brausende Leere.
Zieht das Leben eines Objekts an ihm vorbei, bevor es aufprallt? Wäre Galilei nicht so ein überzeugter Chauvi gewesen, hätte er sich dieser Frage bei seinen Experimenten in Pisa womöglich intensiver gewidmet. Andererseits ist die Annahme, dass etwas Unbelebtes, Anorganisches ein «Leben» hat, das an ihm vorbeiziehen kann, vielleicht schlicht absurd. Aber was sieht Spoon denn nun, als sie auf das Straßenpflaster zusaust?
Sie fällt vorbei an Schalen, grob aus dem Holz des Blauen Gummibaums geschnitzt und mit Bildern von schwangeren Tieren verziert, vorbei an Untertassen aus Schildkrötenpanzern und
compotiers
aus Schädeln junger Mädchen, in deren Wangen das Alphabet geritzt ist. Aus Gefäßen wie diesem hat Spoon ganz gewiss nie Eiscreme gelöffelt.
Sie fällt an einem schwarzen Hahn vorbei, der an einen Bettpfosten gefesselt ist, an einer Eidechse und einem Rotkehlchen, die zusammen aus derselben jahrtausendealten Pfütze trinken, an bunt bemalten Eicheln, Peyote-Möbeln und Kerzenleuchtern, an denen das Fett von Iglukerzen herabrinnt. Auf all ihren Reisen von Küste zu Küste hat Spoon so etwas nie gesehen.
Sie fällt nicht durch ihr eigenes Gehirn wie die Menschen, sondern durch den Raum mit der Wolfsmuttertapete, und Fetzen der Tapete streifen an ihr vorbei, während sie fällt. Sie glaubt, von weit her Conch Shells Stimme zu hören, die ihren Namen trompetet. Dann ist alles vorbei …
Sie landet nicht mit dem grässlichen Klirren, das sie erwartet hat, sondern mit einem dumpfen Schlag. Sie prallt von etwas relativ Weichem ab, beult es ein, fliegt im hohen Bogen zur Seite und landet kaum halb so schnell wie zuvor auf dem Bürgersteig. Ein paar Blutstropfen platschen neben ihr auf.
Hätte Raoul Ritz an diesem Tag seinen Filzhut getragen, hätte dieser den Schlag einigermaßen gedämpft. Sein Manager in Los Angeles jedoch findet den Hut bescheuert und hat ihn überredet, darauf zu verzichten, zumindest in der Öffentlichkeit. Als Raoul sich also dem Ansonia nähert, ganz wild darauf, Ellen Cherry zu erzählen, dass der Song, den er für sie geschrieben hat (und der bei ein paar New Yorker Radiosendern schon hin und wieder gelaufen ist), jetzt landesweit gespielt werden soll, ist seine Birne dummerweise ungeschützt.
Er hebt beide Arme zum Kopf und dreht sich ziellos um sich selbst, wie eine Fledermaus mit defektem Sonarsystem; dann knallt er gegen eine Ecke des Ansonia, prallt ab und bricht zusammen. Pepe, der neue Pförtner, kommt heraus, um nachzusehen, was los ist, findet Raoul bewusstlos auf dem Bürgersteig und ruft den Notarzt. Spoons erster Gedanke ist, sich zu verstecken, doch es hat sich bereits eine kleine Menschenmenge gebildet.
Als Krankenwagen
Weitere Kostenlose Bücher