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Salomes siebter Schleier (German Edition)

Salomes siebter Schleier (German Edition)

Titel: Salomes siebter Schleier (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Robbins
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oder im Orkus landen. Dieser Glaube – dieses Wunschdenken oder diese Angst – bildet einen Schleier, so dicht, so undurchdringlich, dass es an ein Wunder grenzt, wenn wir morgens klar genug sehen, um aufzustehen. Der sechste Schleier ist ein wirksamer Sonnenschutz, wenn nicht mehr. Er könnte auch eine Fessel oder ein Leichentuch sein.
    Solange man ein Volk dazu bringen kann, an ein übernatürliches Jenseits zu glauben, lässt es sich unterdrücken und beherrschen. Die Menschen werden sich mit allen Arten von Tyrannei, Armut und schlechter Behandlung abfinden, solange sie davon überzeugt sind, dass sie am Ende Zuflucht an einem Badeort im Himmel finden werden, wo Rettungsschwimmer überflüssig sind und der Pool niemals geschlossen wird. Darüber hinaus sind Gläubige in der Regel bereit, ihre Haut zu riskieren, ganz gleich, in welches militärische Abenteuer ihre Regierung sich gerade stürzt. Doch wenn der sechste Schleier fällt, wird ganz sicher Mangel an Kanonenfutter herrschen.
    Die hohen Tiere sind keineswegs immun. Während das Konzept vom Leben nach dem Tod die Massen beherrschbar macht, macht es ihre Meister zu Zerstörern. Ein Führer, der davon überzeugt ist, dass das Leben nur eine Prüfung für das kostbarere und authentischere Leben nach dem Tod ist, wird kaum davor zurückschrecken, einen atomaren Holocaust in Gang zu setzen. Ein Politiker oder Konzernmanager, der die ewige Seligkeit mit der nächsten Maschine aus Jerusalem erwartet, wird sich nicht sonderlich den Kopf darüber zerbrechen, ob er Meere verseucht oder Wälder zerstört. Warum auch?
    Daraus folgt: Wer auf ein Leben nach dem Tod setzt, verneint das Leben. Wer sich auf den Himmel konzentriert, schafft die Hölle.
    In ihrer verzweifelten Sehnsucht, Unordnung, Spannungen und Imponderabilien zu transzendieren, die das Leben zur Qual machen, in ihrem Wunsch nach einem neuen Anfang in einem sauberen Habitat, bazillenfrei und von Engeln bewacht, setzen die gläubigen Massen das einzige Leben, das sie vielleicht je haben werden, in einem Rennen ohne Ziellinie auf ein falsches Pferd. Ihre Todessehnsucht übersteigt alle Grenzen, sie ist eine eschatologische Erweiterung von Kissingers perverser Logik – «Um ewig zu leben, müssen wir so schnell wie möglich sterben» –, und wenn die Zeit nicht schnell genug ausläuft, werden sie sich zusammenrotten und ihr ein Ende machen. Zu ihrem Glück sehen sie überall Zeichen dafür, dass das Ende nah ist. Zu ihrem Unglück sind es buchstäblich dieselben Zeichen, die ihre Vorfahren Jahrtausende vor ihnen sahen.
    In der Zwischenzeit drehen sich die thermodynamischen und kosmologischen Kräfte, die das Fundament für die «Zeit» bilden, fröhlich weiter um sich selbst, ohne jemals irgendwo anzukommen. Einfach nur im Kreis. Und noch mal im Kreis. Ordnung expandiert zu Unordnung und schrumpft wieder zu Ordnung, aber so unglaublich langsam, dass es uns langweilt und verwirrt. Schließlich fällt uns dann nichts Besseres ein, als allerlei mögliche Schlussakte dafür zu erfinden. Der sechste Schleier verbirgt keine Uhr ohne Zifferblatt, sondern den erleichterten Ausdruck auf unserem Gesicht, wenn wir uns plötzlich, aus entgegengesetzten Richtungen kommend, selbst gegenüberstehen, frei, endlich die Gegenwart zu genießen, da wir nicht länger von einer Zukunft gefesselt sind, die längst Geschichte ist.
    I & I

Am Sonntagabend gab es keine Vorstellung, und das Isaac & Ishmael’s schloss früh, gleich nach dem Spiel der Yankees. Während der gesamten Übertragung, mindestens einmal pro Inning, machte der eine oder andere Gast eine Bemerkung über Salome, meistens mit heiserer und fiebriger Stimme, der Stimme eines angehenden Bräutigams. Doch ach, das Tamburin lag stumm da, und weder Abu noch Spike konnten die allgemeine Neugier hinsichtlich der Identität seiner Herrin befriedigen. «Aber wenigstens welche Nationalität sie hat, müssen Sie doch wissen!», sagte ein frustrierter Fan. Abu schüttelte den Kopf. «Sie sagt, sie kommt aus Kanaan. Aber das ist natürlich, wie ihr Name auch, nur ihre Vorstellung vom Showgeschäft.» Niemand lächelte. «Sie lernt Krankenschwester im Bellevue», sagte ein Mann. Alle sahen ihn an. Er war Amerikaner, ein untersetzter Schwarzer mit Haar wie Baumwolle, relativ neu im I & I. «Sie besitzt die libanesische Staatsangehörigkeit und ist mit einem Studentenvisum hier. Tagsüber leert sie Bettpfannen aus.» Die Männer starrten ihn ungläubig an. «Woher

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