Salomes siebter Schleier (German Edition)
Rekonvaleszenten sooft er konnte, aber er hatte alle Hände voll mit dem Restaurant zu tun. Die Veröffentlichung des Artikels in der
Village Voice
hatte Salomes Ruhm weiter wachsen lassen. Der Ruf des Isaac & Ishmael’s verbreitete sich noch einen Zacken schneller. Abu stellte die Regel auf, dass niemand im Essraum sitzen durfte, wenn er nicht etwas zu essen bestellte, doch selbst diese grässliche Aussicht konnte die Massen nicht abschrecken. An Freitag- und Samstagabenden gab es schon gegen sieben keinen einzigen freien Platz mehr im ganzen Restaurant. Abu versuchte mit Geld und guten Worten, den Bandleader dazu zu bringen, dass er Salome überredete, auch an anderen Abenden zu tanzen, doch vergeblich. «Ich werde offen mit ihr sprechen», sagte der zahnlose Musiker und befingerte den 50 -Dollar-Schein, den Abu ihm zugesteckt hatte. «Aber sie ist ein junges Mädchen, sie muss lernen, sie braucht ihren Schlaf.»
Eleganter denn je – er trug jetzt zu allen Jahreszeiten dunkelblaue Nadelstreifenanzüge – saß Abu an Spikes Bett und erzählte ihm Geschichten vom Erfolg des Restaurants und von der Aufmerksamkeit, die Salome auf ihr brüderliches Experiment zog. Immer wieder klagte Abu darüber, dass er keinen kompetenten Tennispartner fand, und auch diese harmlose kleine Lüge munterte Spike auf. Doch Abus Besuche waren kurz. Die meiste Zeit kümmerte sich Ellen Cherry ganz allein um Spike. Sie fütterte ihn, badete ihn, erinnerte ihn an seine Medikamente, mixte ihm schwachen Rumpunsch und las ihm Gedichte von Shakespeare und Pablo Neruda vor.
«Als ich war eine kleine Junge», sagte Spike, «ich hatte ein Lieblingslied. Es hieß: Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh.»
«Das wundert mich nicht», sagte Ellen Cherry.
«Ich mochte auch Aschenputtel, aber es machte nervös meine Familie, besonders die Stelle: Ruckedigu, Blut ist im Schuh.»
Obwohl Ellen Cherry auf diese Weise kaum noch Zeit für anderes außer der Arbeit blieb, bereute sie es nicht, wochenlang Spikes Krankenschwester zu spielen. Doch veränderte diese Erfahrung ihre Beziehung radikal. Ellen Cherrys sexuelle Begierde löste sich buchstäblich in Luft auf. Vielleicht war es seine Hilflosigkeit, vielleicht eine Überdosis Intimität. Sie wusste nicht, was das Feuer gelöscht hatte, aber es war aus. Zwar gingen beide einer Diskussion darüber geflissentlich aus dem Weg, doch blieb Spike der erotische Temperatursturz nicht verborgen. Und so sehr er sich auch danach sehnen mochte, er unternahm nicht den kleinsten Versuch, nach dem Delfin zu pfeifen oder ihm eine elektrische Heizdecke über den kühlen, glatten Rücken zu legen. Ellen Cherry und er blieben gute Freunde, doch nie wieder ritten sie über die Wellenkämme des Ozeans, wo die salzige Gischt auf ihrem Neo-Schlampen-Rouge glitzerte und er nach jenem strahlenden Meereswesen tauchte, dessen Geschmack viele Männer gekostet haben, das aber keiner je ganz gesehen hat.
Spike war dünn und blass wie der Altersschimmel auf der Wolfsmuttertapete, als er endlich auf seinen Posten an den Empfangsschalter des Isaac & Ishmael’s zurückkehrte. Es war ein schwüler Freitagabend Anfang August, und das Restaurant bereitete sich auf einen Ansturm von Pita-Liebhabern und Salome-Bewunderern vor. Stammkunden, etwa das Team von marokkanischen Bewässerungsexperten, der kurdische Dolmetscher bei der UNO oder Detective Shaftoe, saßen bereits seit fünf Uhr nachmittags auf ihren Barhockern, bereit, volle vier Stunden auf das erste Klimpern des Tamburins zu warten. Gegen halb sieben lungerten ein paar schmachtende Romeos vor dem Eingang herum, in der Hoffnung, den Blick der Tänzerin zu erhaschen, wenn sie aus der schwarzen Limousine stieg, die sie regelmäßig brachte und wieder abholte. Doch nur das scharfe Auge von Salomes Anstandsdame, der stämmigen Schwester des Bandleaders, nahm sie zur Kenntnis. Salome selbst blickte niemanden an und sprach kein Wort, sondern wartete zusammengekauert, schüchtern, abwesend, zurückhaltend, bis die Band mit der ersten Nummer begann. Dann breitete sie die Arme aus und verströmte ihre Glut im ganzen Raum, erhitzte die frisch rasierten Wangen der Diplomaten und ließ die grünen Oliven in ihren Martinis nachreifen. «Bauchtänzerinnen sind keineswegs neu in New York», hatte die
Village Voice
geschrieben. «Sie wackeln mit Hüften und Ärschen, seit die Verrenkungen von Little Egypt dem revolutionären Flackern des ersten Fernsehers auf der Weltausstellung
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