Salomes siebter Schleier (German Edition)

veröffentlicht. Mehrere Fernsehstationen hatten das zum Anlass genommen, ebenfalls über ihn zu berichten (wie es später auch mit der Salome-Story passierte). Die Folge war, dass reguläre Passanten Buddy mehr Beachtung schenkten und manche diesen Teil der Fifth Avenue sogar bewusst aufsuchten, um den berüchtigten Radio-Evangelisten, der in Christi Sandalenstapfen getreten war und seine Masche auf der Straße abzog, mit eigenen Augen zu sehen. Die zunehmenden Menschenaufläufe auf dem Bürgersteig machten der städtischen Obrigkeit zu schaffen, doch aufgrund der überall zu verzeichnenden Hysterie angesichts der nahenden Jahrtausendwende und der politischen Macht der christlichen Rechten zögerte sie einzugreifen. Insgeheim hoffte die City Hall, dass irgendeine linke Gruppierung, «Freedom From Religion» zum Beispiel, Anzeige erstatten würde.
    «Ich wage zu behaupten, dass Miss Spoon noch nie den Weg eines Geschosses gekreuzt hat, gleich welchen Kalibers, aber Sie, Mr. Sock, haben doch mal erzählt, Sie hätten einst an einer Ochsenfroschjagd teilgenommen …»
    «Krötenjagd, und sie wurden gestochen, oder meinen Sie etwa, man schießt sie ab?», grunzte Dirty Sock. Dann wandte er sich wieder dem Bürgersteig zu. «Der gute Norman konnte zwar Pirouetten drehen wie kein anderer, aber dieser Bursche da weiß, wie man absahnt.»
    «Ich persönlich hätte nichts dagegen, einmal so ein Geschoss kennenzulernen. Ich würde nur allzu gern wissen, was im Inneren dieser kleinen Knallköpfe vorgeht.»
    Das Interesse der Bohnendose an Geschossen war durch eine zum Fenster hereingedrungene Radiomeldung geweckt worden. In einem mit viel medialer Aufmerksamkeit bedachten Versuch, die Verluste unter den unbewaffneten palästinensischen Demonstranten zu verringern, hatte die israelische Armee angefangen, Holz- oder Gummigeschosse zu verwenden. Daraufhin war die Zahl der Todesfälle jedoch drastisch angestiegen. Amerikanische und europäische Krankenpfleger oder Ärzte, die freiwillig in Krankenhäusern auf der West Bank Dienst taten, berichteten, dass israelische Soldaten, der Macht des Bleis beraubt, die jungen Araber nun aus nächster Nähe in den Kopf schossen, sodass selbst ein Gummigeschoss den Tod oder Hirnverletzungen zur Folge haben konnte. «Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg», sagte Can o’ Beans verächtlich. Er/sie entschied, dass er/sie versuchen würde, ein oder zwei Geschosse zu interviewen, falls er/sie es schaffte, tatsächlich nach Jerusalem zu kommen. Hatten Geschosse hinter der Fassade des absoluten Stoizismus, die sie wie alle Objekte der von Belebten kontrollierten Welt präsentierten, Hoffnungen, Träume und Ängste? Unterschied sich das Seelenleben eines Holzgeschosses wesentlich von dem seines stahlummantelten Kollegen?
    Falls ich es schaffe, tatsächlich nach Jerusalem zu kommen.
Dieser Gedanke (vielleicht mit einer Spur Fatalismus behaftet) war kaum durch das geschossen, was man bei einer Bohnendose als Kopf bezeichnen könnte, als Conch Shell und Painted Stick ihn/sie, die Socke und den Löffel von ihrem rostigen kleinen Fenster zur Welt abberiefen, um ihnen zu verkünden, dass sie noch am selben Tag aktiv zu werden gedachten.
    I & I

«Unser Timing muss absolut präzise sein», erklärte Conch Shell. «Und selbst dann wird es enorm gefährlich. Keiner von Ihnen sollte sich verpflichtet fühlen mitzumachen.»
    Doch Can o’ Beans und Dirty Sock waren so scharf darauf, endlich von hier wegzukommen (als Mutanten konnten sie sich nicht mehr mit der Sesshaftigkeit ihrer Spezies abfinden), dass sie schon Feuer und Flamme waren, bevor sie überhaupt den Plan kannten. Spoon schauderte unter leichtem Geklapper zusammen und schloss sich den anderen auf Gedeih und Verderb an.
    Painted Stick würde den Keller in Brand setzen. Das musste passieren, solange es noch hell genug war, damit man draußen sehen konnte, wie der Rauch aus dem vergitterten Fenster quoll, andererseits aber so spät, dass die Objekte den Schutz der Dunkelheit ausnutzen konnten, sobald sie die Kathedrale erst einmal verlassen hatten. Painted Stick, der auf seine Kenntnisse in Sachen himmlische Angelegenheiten bauen konnte, würde die Stunde der Wahrheit auf die Sekunde genau berechnen. Im Idealfall sollte der Rauch zwei Minuten bevor die letzten Farben des Zwielichts verblassten, von Passanten bemerkt werden. Natürlich musste dann auch sofort Alarm geschlagen werden: Wenn das Feuer außer Kontrolle geriet, bestand die Gefahr, dass die