Salomes siebter Schleier (German Edition)
oder von einem Politiker aus dem Süden stammte, den Ausspruch eines griechischen Philosophen.
Ellen Cherry wollte Bud schon fragen, was ihm einfiele, in Jehovas Haus einen Heiden zu zitieren, aber sie wagte nicht, ihm zu nahe zu kommen. Nach der Beerdigung stand er die meiste Zeit bei Patsy, legte einen Arm um sie und drückte hin und wieder ihr verheultes Gesicht an sein Armani-Jackett. Immer wenn er in Ellen Cherrys Richtung sah, mahlten seine Goldzähne vor sich hin wie die Mühlen der Bürokratie bei einer Scheidung. Zum Glück kehrte er am nächsten Morgen nach New York zurück.
Am Nachmittag des nächsten Tages reiste auch Ellen Cherry wieder ab. Patsy hatte darauf bestanden. «Du hast deinen Job, Kleines. Dein Daddy hätte nich gewollt, dass du noch länger von der Arbeit wegbleibst. Du weißt ja, was er von Drückebergern und Faulenzern gehalten hat.»
Trotzdem zögerte Ellen Cherry aufzubrechen, bis Patsy ihr erzählte, sie hätte vor, selbst nach Manhattan zu kommen. «Im Moment steh ich noch unter Schock. Lieber Himmel, was für ein Schock! Aber mit der Zeit werd ich drüber wegkommen, und dann hält mich nix mehr in Colonial Pines. Vielleicht zieh ich sogar nach Manhattan und bleib ’ne Weile bei dir. Wär das okay? Daddys Lebensversicherung reicht für die Brötchen, und wer weiß, vielleicht kann ich aus dem alten Schuppen hier noch was rausschlagen.»
Auf dem Flug von Byrd Field versuchte Ellen Cherry vergeblich, sich Patsy ohne Verlin vorzustellen. Aber sie konnte sich nichts ohne ihn vorstellen, so unbedeutend er als Spieler auf der Weltbühne auch gewesen sein mochte. Die chronische Abwesenheit von jemandem, der (aus ihrer Perspektive) immer da gewesen war und ihre grundlegenden Erfahrungen, ihr Fleisch und Blut geprägt hatte, war überwältigend und irreal. Sie fühlte sich älter, verletzlicher, als wäre plötzlich ein Puffer zwischen ihr und der Schwelle zum Tod gebrochen.
Am Tag nach der Beerdigung, als ihre Mutter und sie vor dem Ventilator gesessen und eisgekühlten Tee geschlürft hatten, hatte Patsy auf zwei Fehlgeburten angespielt, die sie gehabt hatte, als Ellen Cherry noch ganz klein gewesen war. Der eine Fötus war offenbar nicht von Verlin gewesen. Das war eine Information, um die Ellen Cherry nicht gebeten hatte und die ihr unangenehm war, doch als sie versuchte, das Thema zu wechseln, hatte Patsy erklärt: «Aber jetzt isses Zeit für
dich
, Kleines, Babys zu haben. Bald. Und weißt du, warum? So ein Baby krempelt zwar dein ganzes Leben um, aber solang du jung bist, hast du sowieso das Gefühl, das Leben wär ein Riesenchaos, und deshalb macht’s dir nich viel aus, noch ein oder zwei Babys darin unterzubringen.»
Wahrscheinlich hatte Patsy recht mit dem Riesenchaos. Bislang war ihr Leben wirklich nicht gerade wie am Schnürchen verlaufen, obwohl es überall in ihrer Umgebung Leute gab, bei denen alles noch verfahrener und konfuser war als bei ihr. Auf alle Fälle schien das Hosenbündchen ihres emotionalen Pyjamas diesmal dichtzuhalten, vorausgesetzt, es war nicht wieder falscher Alarm.
Die Skyline von Manhattan rückte ins Bild. Die Türme lenkten sie von ihrem Kummer und ihrer Nabelschau ab und schenkten ihr einen unerwarteten Nervenkitzel. Richmond war so flach im Vergleich, Colonial Pines ein solch harmloser Splitter am Maibaum der Welt. Sie fühlte sich wie eine Biene, die zu einem großen summenden Stock zurückkehrt, aber einem Stock, wo die Drohnen das Gelée royale klauten, die Arbeiterinnen den Müll nachts heimlich auf die Straße kippten und die Königin nur so lange regierte, wie sie gute Kritiken in der
Times
bekam. Möglich, dass alle Welt mit Jerusalem beschäftigt war, aber ihr war New York aufregend genug. «Alles Mögliche könnte da unten passieren», sinnierte sie, aber aus dieser Höhe war es natürlich unmöglich, etwas Bestimmtes auszumachen. Nicht eine einzige verirrte Rauchfahne, kein Fetzen abgerissenes Sirenengeheul drang von dem Brand, der in der St. Patrick’s Cathedral tobte, zu ihrer Maschine hoch.
I & I
«Hat je einer von Ihnen Bekanntschaft mit einem Geschoss gemacht?»
Can o’ Beans’ Frage blieb unbeantwortet. Dirty Sock und Spoon waren vollauf mit der Menge beschäftigt, die sich auf den Stufen der Kathedrale versammelt hatte, um Reverend Buddy Winkler zuzuhören oder ihn zu bestaunen. Ein Journalist der
Village Voice
, derselbe rasende Reporter, der so begeistert von Salome gewesen war, hatte einen Artikel über den Prediger
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