Salomes siebter Schleier (German Edition)
von 1939 die Schau stahlen. Seit 1940 gab es in dieser Stadt stets mindestens zwei oder drei arabische oder griechische Clubs, in denen Ausübende dieser alten Kunst zu bewundern waren. Doch noch nie hat Manhattan eine Bauchtänzerin gesehen, die der jungen Salome im Isaac & Ishmael’s das Wasser reichen könnte.»
Um zehn vor sieben klingelte das Telefon. «Isaac & Ishmael’s», sagte Spike. «Wir sind bereits voll.» Er lauschte einen Augenblick und machte Ellen Cherry dann ein Zeichen. «Für dich», sagte er und schwenkte den Hörer. «Hört sich an wie deine Mama.»
«Ich geh in der Küche ran. Tut mir leid, Spike. Ich hab ihnen gesagt, sie sollen hier nicht zur Essenszeit anrufen.»
«Keine Sorge. Wir haben ohnehin nichts mehr frei.»
«Ja, aber ich muss tonnenweise Falafel servieren.»
«Macht nichts. Ich übernehme deine Tische. Es ist nur die Tänzerin, auf was sie sind scharf.»
«Na schön, aber übertreib nicht, sonst kriegst du mir noch einen Rückfall. Ich will morgen Farbe und Leinwand kaufen gehen.»
Sie schob die unzähligen anonymen Hände beiseite, die sich ausstreckten, um sie in den Arsch zu kneifen oder über ihre Schenkel zu streicheln, und kämpfte sich durch bis zur Küche, wo sie den Hörer vom Wandapparat nahm und erfuhr, dass ihr Daddy gestorben war.
Trotz der Künste des Leichenbestatters lag Verlin Charles in seinem Sarg und roch noch immer nach muffigem Waschlappen. Es war eine Art von Widerstand, der Ellen Cherry irgendwie tröstete. Verlin nahm diesen Geruch sozusagen mit ins Grab.
Sie stand über den offenen Sarg gebeugt und erinnerte sich an Dinge, die sie zusammen gemacht hatten, an Dinge, die er für sie getan hatte, an die Puppen und Malkästen, die er ihr mitgebracht hatte, an die Filme, die sie auf seinem Schoß sitzend gesehen hatte, an die Fahrten nach Florida, auf denen er immer wieder gefragt hatte, ob «Daddys kleines Mädchen» eine Cola oder einen Hamburger wollte oder pinkeln musste (dabei wollte sie nichts weiter als ihr Augenspiel spielen). Mit Tränen in den Augen mischte sie das Blatt der Erinnerung und spielte nur die Karten aus, die seine Liebe bewiesen – Rücksichtnahme, Aufopferung, Spaß. Doch immer wieder tauchte das Pik-Ass auf und machte den Stich, indem es ihr jenen Tag ins Gedächtnis zurückrief, an dem er sie aus der Kunstklasse gezerrt, ihr das Gesicht zerkratzt und sie «Jezabel» genannt hatte. Dieser Tag schien alles zu überschatten, was Verlin zu ihrer Entwicklung und zu ihrem Glück beigetragen hatte. Sie fragte sich, ob es normal war, Groll gegen im Großen und Ganzen liebevolle Eltern zu hegen, selbst über den Tod hinaus. Wenn sie morgen starb – würde man sie wegen ein paar guter Bilder in Erinnerung behalten, wegen ein paar guter Taten im Leben oder wegen ihrer Selbstsüchtigkeit und Gehässigkeit, vor allem gegenüber Boomer Petway? Sie weinte nicht nur um ihren Vater, sondern auch um sich selbst. Erst als sie merkte, dass der Leichenbestatter eine dicke Schicht Schminke auf dem Gesicht ihres Vaters verteilt hatte, stahl sich ein bitteres Lächeln durch die Tränen.
Patsy kam und stellte sich neben sie. «Der Football hat ihn umgebracht», sagte sie.
«Wovon redest du, Mami? Daddy hat nicht mehr Football gespielt, seit er ein kleiner Junge war.»
«Nich das Spielen, das
Zugucken
. Er hat vor dem gottverdammten Kasten gesessen, bis sein Herz nich mehr wollte.»
Später erzählte einer der Sargträger Ellen Cherry, dass Verlin während eines Freundschaftsspiels der Washington Redskins plötzlich aufgestanden war und nach seinem Herzen gegriffen hatte, «’s war nich die Aufregung», vertraute der Mann ihr an. «’s warn die späte Stunde und die guten Häppchen deiner Mama.»
Reverend Buddy Winkler vermied in seinem Nachruf jede Anspielung auf Football oder Fernsehen, gab jedoch ein paar Anekdoten vom Krötenstechen zum Besten. Der Prediger sprach sehr eindrucksvoll, das musste selbst Ellen Cherry zugeben. Sein Saxophon hauchte den Augen des Toten ein bisschen Glück ein und seiner explodierten Pumpe den ewigen Frieden. In hypnotischen Kadenzen beschwor er vor den schlichten baptistischen Trauergästen den Schatten, den ein neugeborenes Baby wirft, ließ dann den Schatten wachsen und spitz zulaufen, bis er wie ein Kirchturm in Gottes eigenem Himmel endete. «Was unten ist, ist auch oben», sagte er und zitierte damit vor einem Publikum, das nur selten etwas als Wahrheit akzeptierte, was nicht direkt aus der Bibel
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