Salomes siebter Schleier (German Edition)
Jezabel war inzwischen die voll erblühte Frau des Königs Ahab von Israel, berichteten ihr ihre Eltern, dass der Astronom gestorben war. Jezabel schickte einen Vertrauten nach Phönizien, der alles erwerben sollte, was sich im Inneren des geheimen Observatoriumtempels befand, denn sie hatte vor, in Samaria, der Hauptstadt des nördlichen Israels, einen Schrein zu errichten. Jerusalem war die Hauptstadt des südlichen Israels, damals bekannt als Judäa. Ist die Rivalität zwischen Nord und Süd nicht unausweichlich? Nord- und Südkorea, Nord- und Südvietnam, Nord- und Südirland, Yankees und Rebellen, Uptown und Downtown. Kann mir irgendjemand erklären, warum das so ist? Vielleicht kriegen die Menschen im Süden zu viel Sonne ab, wie Mr. Sock da drüben, der seine Fäden von ihr trocknen lässt, und die im Norden haben nicht genug (obgleich ich Nordisrael kaum als kühles schattiges Plätzchen bezeichnen würde), aber die Leute im Süden – ob in den Tropen oder Downtown – scheinen immer etwas mehr zur Dekadenz zu neigen, während im Norden oder Uptown der Fortschritt blüht. Dekadenz und Fortschritt sind ganz offensichtlich Gegensätze. Auf jeden Fall waren Israel und Judäa Gegner, und es gab einen gewaltigen militärischen und wirtschaftlichen Aufschwung in Israel, als Ahab Jezabel zur Frau nahm und damit seine ohnehin engen Beziehungen zu Phönizien festigte. Als Ahab Jezabel nahm, bekam er jedoch auch Astarte, was kein schlechter Handel war, denn kaum einer in seiner Umgebung außer einer Bande verkniffener alter Stiesel mit Mundgeruch und Impotenzkomplexen gab einen Pfifferling für Jahwe. Das jedenfalls berichtet Miss Shell.»
I & I
Mitten in
2010
verlor Ellen Cherry die Lust. Sie hatte genug von langweiligen Supermännern, schwulen Computern und außerirdischen Schokoriegeln. («Das Zeug stammt vom Jupiter», sagte sie, «es ist nicht mal ein richtiges
Mars.
») Champagner und Popcorn waren längst alle und hatten fettige Blasen in ihrem Bauch und Kopf hinterlassen. Auch die Petting-Session war im Sande verlaufen – wie zum Teufel sollte man auf Schalensitzen gemütlich fummeln?
Schließlich, nachdem sie genug hin und her gerutscht war und sich mehrmals geräuspert hatte, hatte sich Ellen Cherry ein Herz gefasst: «Liebling, bist du mir sehr böse, wenn ich nach hinten gehe und ein bisschen male?»
«Tu, was du nicht lassen kannst.»
Ellen Cherry tat, als bemerke sie den plötzlichen Temperatursturz ihres Holden und die frappierende Ähnlichkeit seines Tonfalls mit dem Todesseufzer eines unterkühlten Eisbären nicht, sondern küsste seine hohe Stirn, auf der sich die Haare lichteten wie die Reihen der Farmersöhne, die ihre alte Heimat gegen die Lichter der Großstadt eintauschen, und sagte: «Danke, Schatz. Ich werde mich bei unserem zweiwöchigen Jubiläum revanchieren.»
«Dann sind wir in New York.» Er sagte das, als wäre es eine Strafe Gottes, in New York zu sein.
«Genau», rief sie fröhlich. «Im größten Apfel diesseits des Atlantiks, und wir werden ihn knacken, verlass dich drauf!» Bevor er noch widersprechen konnte, schwebte sie vom Cockpit in die Kabine, ganz schön anmutig, wenn man bedenkt, dass sie ein mächtig schlechtes Gewissen im Schlepptau hatte.
Während sie eine von mehreren zugeschnittenen, gespannten und grundierten Leinwänden aus der langen Vorratsschublade unter dem Sofa zog, dachte sie:
Ich hab’s ihm verdorben.
Während sie ihre Staffelei neben dem Sofa aufbaute, dachte sie:
Er wollte, dass ich bleibe. Ich wollte weg. Einer von beiden musste verlieren.
Als sie kleine Kringel Farbe aus den Tuben drückte, dachte sie:
Er findet es nicht richtig, dass Kunst das Wichtigste in meinem Leben ist. Aber nur deshalb bin ich gut in dem, was ich mache.
Als sie ihre Pinsel auspackte und jeden einzelnen im Schein der grässlichen truthahnroten Beleuchtung inspizierte, dachte sie:
Er sagt, dass ich meine Kunst mehr liebe als ihn. Da hat er recht. Aber ich liebe sie auch mehr als mich selbst.
Doch kaum hatte sie angefangen zu malen, hörte sie auf zu denken. Das schlechte Gewissen wirbelte davon wie eine Staubfluse. Bald pfiff sie unbekümmert vor sich hin und tanzte von einem Fuß auf den anderen. Sie schmierte die Farbe auf die Leinwand, sie tupfte sie, sie trug sie messerdick auf und mit wässrigem Pinsel, sie hellte mit Weiß auf und tönte mit Schwarz ab, sie verwischte sie zu pastellfarbenen Strukturen und isolierte sie in einzelnen, kraftvollen
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