Salomes siebter Schleier (German Edition)
Pinselstrichen wie Kommata. Was die Technik anging, so war sie zweifellos ein ausgefuchstes Luder.
Auf ihrer kleinen Leinwand ließ sie einen Abschnitt der Crazy Mountains neu erstehen, jener Bergkette in der Nähe von Livingston, die sie am Morgen desselben Tages bewundert hatten; das heißt, sie gab die Berge nicht so wieder, wie sie tatsächlich ausgesehen hatten, sondern wie sie sie letztendlich sehen wollte, denn man nimmt nicht nur wahr, sondern hat auch den Willen, wahrzunehmen, besitzt nicht nur die Fähigkeit, die Welt zu beobachten, sondern auch die Möglichkeit, diese Beobachtungen zu modifizieren – und das ist letztlich nichts anderes als die Fähigkeit, die Welt an sich zu verändern. Menschen, die erkennen, dass die Phantasie der Meister der Realität ist, heißen «Weise», und solche, die danach handeln, «Künstler».
Oder «Verrückte». Can o’ Beans hatte recht, als er/sie eine wenig an der Realität orientierte Wahrnehmung mit einem kranken Geist in Verbindung brachte, aber der wahre Verrückte unterscheidet sich vom «verrückten» Weisen oder «verrückten» Künstler durch seinen offensichtlichen Mangel an Selbstkontrolle. Die verzerrte Wahrnehmung der Welt, die ein wirklicher Verrückter hat, ist nicht freiwillig oder phantasievoll abgewandelt worden, sondern schlicht und einfach unzulänglich. Verrückte sind der Willkür missverstandener oder unbeherrschbarer Wahrnehmungen ausgeliefert. Wenn es jedoch um das Thema einer
eigenen
Realität geht, sind Künstlerinnen und Künstler gefragt.
Ellen Cherry zum Beispiel. Sie stellte Berge auf den Kopf, verwandelte Felshänge in Weidenbäume und Weidenbäume in Zitronenbaisers. Die Leinwand erbebte unter den ausgeklinkten Megajoules natürlicher Energie: Geologie, Meteorologie, Zoologie und Botanik, die zu einem sich langsam steigernden Tribut an Natur und Farbe verschmolzen. Mit ihrer Malerei sang sie das Lied von Kobalt und Oxid, Kadmium und Umbra; leierte sie die Pigmente herunter wie der Novize im Konvent die Namen der Heiligen: «Van-Dyck-Braun» zum Beispiel, der Schutzheilige billiger Zigarren, oder «Krapprot», Schirmherr wütender Floristen.
Sie sang, pfiff und tanzte; sie zwinkerte, blinzelte und streckte die Zunge heraus; sie grinste, schnaufte und kratzte sich die Pussy (ihr Höschen baumelte noch über der Gangschaltung im Cockpit); Farbe geriet ihr auf die Ellbogen und ins Haar (wo sie sich tagelang unbemerkt halten konnte, weil es gelbes Ocker war – Schutzheiliger der chinesischen Eisenbahnarbeiter von Tulsa); sie kleckste, rackerte, tupfte und streichelte mit gefüllten Pinseln, in einem Rausch schwindelerregender Transzendenz, glücklich wie ein Hobo auf dem Weg aus der Stadt.
Das fertige Produkt? Nun, es war weder ein Stück harte Realität noch ein harmloses Phantasiegebilde, eher eine Mischung aus beidem. In völlig unscheinbaren nackten Felsoberflächen hatte Ellen Cherry einen hellen Wirbel wankelmütiger Emotionen entdeckt, während sie in Wolkenhaufen, aus deren Kaminen die seltsamsten Schrullen blakten, eine Düsterkeit aufspürte, die selbst einen Finanzbeamten hätte weich werden lassen. Sie verschwendete jedoch keine Zeit darauf, das fertige Produkt zu bewundern, sondern fing an, sich und die Stätte ihres Wirkens zu säubern. Und sobald sie den reinen Schöpfungsakt abgeschlossen hatte, kam das schlechte Gewissen zurück. Vor lauter Eile, zu ihrem Liebsten zurückzukehren, beging sie die Todsünde der Malerinnen und Maler: Sie vergaß, ihre Pinsel ordentlich zu reinigen.
Doch wegen Boomer hätte sie sich nicht zu beeilen brauchen. Er schlief tief und fest, über das Lenkrad drapiert wie ein Bärenfell. Sie rüttelte ihn sanft. Wie er da so weggetreten blinzelte, machte er den Eindruck, als sei ihm der Akt des Aufwachens vollkommen fremd, als ginge ihm allein schon die Vorstellung des Wachwerdens nicht in den Kopf.
«Wieso weckst du mich?», brummte er.
Irgendwie konnte sie ihm nicht die Wahrheit sagen: dass es schon nach eins war, dass sie vier Parkplätze eines Drive-in-Kinos irgendwo in Montana belegten, dass die Filme zu Ende waren, die Lichter an, die anderen Wagen verschwunden, dass ein gemeiner Wind sie umheulte und Schneeflocken ausspuckte wie Kerne einer Albino-Wassermelone, dass die Kinoangestellten zu eingeschüchtert waren, um an die Fensterscheibe ihres grotesken Gefährts zu klopfen, und in diesem Moment wahrscheinlich abstimmten, ob sie den Sheriff anrufen sollten oder nicht. Irgendwie konnte
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