Salomes siebter Schleier (German Edition)
unteren Gliedmaßen seiner Mutter auf gesunde Frauenfüße ganz allgemein. Da nackte weibliche Füße im Ghetto der Orchard Street nicht alle Tage zu besichtigen und Ausflüge nach Coney Island äußerst selten waren, verlagerte sich Joshuas podalgische Passion allmählich auf Schuhe. Frauenschuhe.
Der halbwüchsige Joshua hatte genug vom Schneiderhandwerk, gab Fersengeld und verdingte sich als Lehrling bei einem Schuster. Mit einundzwanzig hatte er seinen eigenen kleinen Schuhladen auf der Delancey Street. Mit fünfunddreißig nannte man ihn den Galoschenhahn von Long Island, wo er, auf der Suche nach Distanz zu den Schalentierstummeln der Orchard Street, Dutzende von Schuhboutiquen besaß. Als er fünfzig wurde, hatte sich die Kette – Golda Shoes (nach seiner Mama) – über New York nach New Jersey und bis nach Connecticut ausgebreitet.
Joshua Cohen war Autodidakt. Im Fach Geschichte kannte er sich ziemlich gut aus. Etwa in der Mitte seiner Karriere als Schuhtycoon stieß er in einem Buch über das moderne Japan zufällig auf die Fotografie einer Mutter mit ihrer Tochter, deren Füße von Strahlenverbrennungen fast weggefressen worden waren. Sie waren Überlebende des Atombombenangriffs auf Hiroshima. Joshua betrachtete das Bild voller Grauen. Es berührte ihn in zweierlei Hinsicht. Einmal ging ihm auf, dass die Krebsfamilie der Cohens genau wie die Frauen von Hiroshima bedauerliche Opfer der menschlichen Unmenschlichkeit waren. Das wiederum erweckte in ihm eine unüberwindliche Abneigung gegen Krieg, Verfolgung, Terrorismus und jede Art von Gewalt, die Fleisch und Knochen der Menschen verstümmelt, besonders das weiche Fleisch und den zarten Knochenbau eines weiblichen Fußes.
Infolgedessen wurde Joshua Cohen Pazifist, umso aktiver, je älter er wurde. Er übernahm die persönliche Verantwortung für sämtliche verstümmelten und fehlenden Zehen der Welt, er marschierte, entwarf Transparente, verteilte Flugblätter und veranstaltete Unterschriftenaktionen, er demonstrierte gegen militärische Aktionen in Vietnam, in Afghanistan, in Nicaragua, El Salvador und Südafrika. Als Jude konzentrierte er sich mit der Zeit immer mehr auf die Situation im Nahen Osten, vor allem im Anschluss an eine besonders eindrucksvolle Reise nach Jerusalem.
Als er mit sechzig Roland Abu Hadee kennenlernte, dachte er längst daran, das Einzelhandelsimperium seinem einzigen Sohn zu übergeben (seine Frau, der seine Bewunderung für ihre Füße unheimlich war, hatte ihn nach nur zehn Monaten Ehe verlassen: einen Monat, so pflegte er zu sagen, für jeden ihrer Zehen) und sein Leben dem Frieden im Nahen Osten zu widmen.
So gab er seine Schuhboutiquen auf, nicht aber seine Liebe zu ihrem Inventar. Im Tennisclub oder in Cafés, wo er und Abu von ihrem Restaurant träumten, am Empfangsschalter, wo er den Gastgeber spielte, nachdem das I & I wirklich und wahrhaftig eröffnet worden war, auf dem Bürgersteig, wo er nach dem Anschlag mit Tränen in den Augen den ausgebrannten Speisesaal betrachtete, in diesen Momenten, aber auch in vielen anderen dazwischen, merkte er plötzlich, wie sich sein Blick von irgendeiner Sache, mit der er beschäftigt war, löste und auf die beschuhten Füße einer Frau in der Nähe fiel (häufig eine völlig fremde in der Menge), wie er gedankenverloren Designer und Hersteller identifizierte und dann, wenn das Prosaische erledigt war, im Geiste mit, sagen wir, einem Riemen oder einer Schleife, den Schnürsenkeln, einer Troddel, Spange oder ein paar Knöpfen spielte, wie er aus der Ferne über die diversen Materialien strich, glatt oder rau, Kalbsleder, Vinyl oder Kroko, wie er schließlich, als sei dies alles nur das Vorspiel gewesen, die Umrisse des
yoni
-lippigen Behältnisses nachzeichnete: die weichen, fleischigen Kurven, die kräftige animalische Muskulatur, die schmeichelnde Wölbung des Spanns, das schwindelerregende Gefälle vom Absatz zum Zeh, die genauen Umrisse der geschmeidigen, rhythmischen Membran, die das äußerliche Unendliche vom inneren Kern trennt, also die Unendlichkeit der Bewegung von der relativen Ruhe eines Objekts im Raum und somit süßes und verschwitztes Fußfleisch vor Glassplittern und Hundescheiße außerhalb seiner schützenden Hülle bewahrt.
Schuhe, wie hat Cohen euch geliebt? Wollen mal sehen.
Flache Schuhe, Hüttenschuhe, Stöckelschuhe, Filzpantoffeln, Pumps, Spitzenschuhe, Turnschuhe, Clogs, Slipper, Mokassins, Damenstiefel mit Keilabsatz oder Plateausohle,
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