Salomes siebter Schleier (German Edition)
gehalten hätte. Abu und Spike brannten – jeder auf seine Art – darauf, sie aufzuklären. Ihre Erklärungen wären vielleicht erhellend gewesen, hätten sie die Tugenden der Schlichtheit oder Logik besessen, doch offenbar musste jede genaue Schilderung der Lage im Nahen Osten diese Eigenschaften vermissen lassen.
Wäre sie noch vor wenigen Wochen gefragt worden, was ihr spontan einfiel, wenn sie die Worte «Naher Osten» hörte, hätte sie geantwortet: «Teppiche.»
Sie hatte der Lage im Nahen Osten an sich nie viel Aufmerksamkeit gewidmet, und sie wusste auch, warum. Es war eine Überdosis Irrsinn. Es war ein siebzigköpfiges Orchester, das in einer Besenkammer einen Trauer- und einen Hochzeitsmarsch zugleich einstudierte. Es war eine Feuerteufel-Konferenz in einem Strohhotel.
Seit sie mit dem I & I zu tun hatte, hatte sie gelernt, dass es verschiedene Arten von Arabern gab: Drusen, Schiiten, Sunniten, Hijazi, Beduinen, Sufis, Wahhabiten, Kopten – und die Palästinenser, die sich selbst nicht als Araber bezeichneten und die nomadischen Traditionen ihrer Cousins vom Schlage des «Schlafenden Zigeuners» verachteten. Jessas! Im Nahen Osten gab es mehr verschiedene Araber als Pillendosen bei Cartier. Und mit den Juden war es offenbar genauso schlimm. Alles andere als aus demselben Holz geschnitzt, verteilten sich die Juden über ein weites, politisch höchst gegensätzliches Spektrum; statt eines jüdischen Standpunkts gab es Dutzende, streng nach Klassenzugehörigkeit, ethnischen und religiösen Richtlinien getrennt.
Die Frage, wer als legitimer Herrscher über Jerusalem und das dazugehörige Land in Frage kam – als legitimer Herrscher über Palästina oder Israel oder wie auch immer man es nennen will –, fangen wir lieber gar nicht erst damit an! Wir könnten für beide Seiten eine vollkommen logische Rechtfertigung konstruieren, ja wir könnten im Viertelstundentakt für jede Seite eine
neue
logische Rechtfertigung konstruieren, bis die Flüsse rückwärtsfließen. Und dann wären da immer noch die Christen einzurechnen.
Es ist alles zu komplex, zu verwirrend
, dachte sie.
Sie werden es nie schaffen, dieses Durcheinander zu entheddern.
Und seit diesem Nachmittag dachte sie, sobald die Rede auf den Nahen Osten kam, immer nur noch:
Teppiche.
Schenkt ihr einen orientalischen Teppich, blütenreich und farbenprächtig, tröstlich und doch faszinierend, wie ein überzogenes Augenspiel, das sich ausrollen und auf dem Boden ausbreiten lässt. Schenkt ihr Muster und Farben, den Plan eines höheren Bewusstseins, eine Landkarte, gewebt aus Träumen und Haar, verfeinert mit Wein und Spezereien. Anders ausgedrückt, schenkt ihr Schönheit. Schenkt ihr das Beste, was die Menschheit zu bieten hat. Schenkt ihr Kunst.
Sie küsste Abu und Spike auf ihre traurig gerunzelten Stirnen, befreite sich aus den bizarren Verschlingungen ihrer Grübelei und lenkte das, was von ihrem Kater übrig war, eilig in Richtung Fifth Avenue. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, um Turn Around Norman bei der Arbeit zuzusehen.
Es würde noch eine volle Stunde dauern, bis das Tageslicht endgültig der Dämmerung wich, doch es war das schwachbrüstige Licht eines Herbstnachmittags, ein von der Nacht bereits besiegtes Licht. Lange Schatten tauchten die Straßen in Sepiabraun, und die Kühle, die sich über Manhattan legte, fühlte sich so erfrischend dekadent an wie der Atem einer Kürbislaterne. In der Tat spukte schon morbid verwässerter Halloweenschmuck in den Fenstern der eleganten Sandsteinhäuser an der Forty-ninth Street. Über dem Eingang von Mel Davis’ Hundeboutique, wo Ellen Cherry kurz stehen blieb, um mit prähalloweenschem Gruseln zuzusehen, wie eine zimperliche Töle mit allerlei Ölen gesalbt wurde, tanzte sogar ein Papierskelett. Sie fragte sich, warum Mel sich nicht ein
Hunde
skelett vor die Tür hängte, bei dem wenigen, was Pudel von den Wegen der Toten verstanden, aber zugleich musste sie einräumen, dass alle Hunde, einschließlich solcher gestutzter Bettvorleger, einen gewissen Riecher für unsichtbare Spuren haben.
Die Straße war von Bäumen gesäumt, an denen, so stand zu vermuten, zahlreiche Köter ihr Bein gehoben hatten. Geschäftsleute schwangen Aktentaschen und trotteten durch herabgefallenes Laub nach Hause. Von Zeit zu Zeit ließ einer eine messingfarbene Blätterwolke aufstieben und sah sich dann schuldbewusst um, als könnte man ihn eines Vergehens gegen das Erwachsensein
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