Salto mortale
schlimmen
Weg getreten war, daß sie nie diesem Men-
schen ihre und ihrer Kinder Zukunft hätte an-
vertrauen sollen. Sie mied ihn, sie haßte ihn an
diesem Tage, denn sie sah nun deutlich, wie er
sie nach und nach und Schritt für Schritt zur
Torheit verleitet hatte. Ihre Augen hingen an
den Knaben mit traurigen Blicken, die etwas
abzubitten schienen.
Die Buben wurden von ihrer Traurigkeit
angesteckt; Franzli, um sich und die Mutter
zu erheitern, wollte ihr eine von Häberles Ge-
schichten erzählen.
„Weißt du es, von den Finken, die sangen:
Seht ihr das Gold blinken?
Wir sind die Goldfinken …“
Sie aber wollte keine Goldgeschichten hö-
ren, ihr klang das nüchterne Bibelwort in den
Ohren: „Bleibe im Lande und nähre dich red-
lich.“
Als Signor Ercole zur Abreise drängte, zog
sie Heinz in ihre Kammer, nahm seinen Kopf
zwischen ihre Hände und sagte: „Du bist der
Ältere, trag’ Sorge zu dem Kleinen, weil ich es
nicht kann, und denk’ jeden Morgen beim Auf-
stehen, du müssest dem Franzli bis zum Abend
ein kleiner Vater sein.“
Die Tränen traten dem Knaben bei den be-
benden Worten in die Augen, und schluchzend,
aber sich in seiner Beschützerwürde aufrich-
tend und streckend, versprach er ihr alles. Dann
wischte er sich tapfer die Augen und trat in das
Wohnstübchen zurück, wo die beiden andern
zur Abreise bereit standen. Er faßte Franz bei
der Hand und führte ihn wie ein Mann und Va-
ter in den ‚Sack‘ hinab und, ohne den Kopf zu
wenden, an der Schreinerwerkstatt vorbei und
dem Bahnhofe zu. Signor Ercole und die Mut-
ter folgten schweigsam, jedes eigene Gedan-
kenwege gehend. Als sie in die rauchige Halle
des Bahnhofes eintraten, vermochte die Mut-
ter kaum zu atmen, sie stand still und seufzte:
„Jetzt geht ein neues Unglück an, ich fühle es.“
„Ein neues Glück! willst du sagen“, erwiderte
er höflich, küßte sie auf die Wangen und zog
die Knaben rasch mit sich fort in einen Wagen.
Die Kleinen drückten die Gesichter noch an
die Scheiben, als Mutter und Bahnhof längst
entschwunden waren, und spähten sich schier
die Augen aus.
Als der Zug ihre beiden Krausköpfe davon-
getragen hatte, hinaus in das winterlich frostige
Land, schritt Frau Seline nach dem Friedhof,
sie hätte an jenem Morgen keinen andern Weg
gefunden. Auf dem Grab lag frischer Schnee, so
rein und, im Sonnenlicht, das die Wolken zer-
riß, so blendend, daß die Augen der Frau sich
schlossen. Und durch die zusammengepreßten
Lider drängten sich langsam und bitter die Trä-
nen, die Arme wußte nicht, wem sie galten, ob
dem Andenken des Mannes, der unter der flek-
kenlosen Decke lag, ob seinen zwei Kindern,
die sie in die Welt hinaus, ins Vater- und Mutter-
lose hatte stürmen lassen! In wessen Hut? Sie
wagte nicht klar zu denken, was sie in dieser
Stunde gegen ihren Bräutigam empfand.
Nach Hause zurückgekehrt, war das erste,
was sie erblickte, ihre zwei Azalien. Sie hatte sie
in den letzten Tagen vernachlässigt, wie hätte
sie für derlei Dinge Gedanken gehabt? Unter
der mangelhaften Pflege und bei dem kargen
Winterlicht hatten sie sehr gelitten, der klei-
nere schien halb abgestorben und verloren. Die
Stöcke redeten zu der verlassenen Mutter wie
ein Gewissen; so sollte sie nun in den Pflanzen
täglich ihre Kinder hinsiechen und zugrunde
gehen sehen! Sie fürchtete sich halb vor ihnen,
wie vor dämonischen Wesen, und in einer An-
wandlung von Feigheit trug sie sie zum Flusse
und warf das Gewissen ins Wasser, um gleich
nachher ihre Tat, die ihr nun fast wie ein Mord
vorkam, wieder zu bereuen.
Es folgten traurige Tage für die einsame
Mutter in der so still gewordenen Dachwoh-
nung, in der nichts zu hören war, als dann und
wann ein Seufzer oder ein Schluchzen oder das
Rascheln einer Maus in der Diele. Die Uhr an
der Wand stockte: wozu sie aufziehen? Das
Feuer auf dem Herde schlief: für wen kochen?
Die Fensterscheiben trübten sich: wem sollten
sie glänzen?
Signor Ercole hatte versprochen, bald zu
schreiben; aber die erste Woche verstrich und
die zweite, ohne daß ein Brief eintraf. Seline
war in Verzweiflung, sie ging nicht mehr an
die Arbeit, verließ überhaupt das Haus nicht,
um den Briefträger nicht zu verfehlen. Klang
ein Schritt auf der Treppe, oder hörte sie vom
untern Stockwerk her das bekannte zweima-
lige Läuten, so hämmerte ihr das Herz in der
Brust. Einmal träumte ihr, sie esse
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