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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Bosshart
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schlimmen
    Weg getreten war, daß sie nie diesem Men-
    schen ihre und ihrer Kinder Zukunft hätte an-
    vertrauen sollen. Sie mied ihn, sie haßte ihn an
    diesem Tage, denn sie sah nun deutlich, wie er
    sie nach und nach und Schritt für Schritt zur
    Torheit verleitet hatte. Ihre Augen hingen an
    den Knaben mit traurigen Blicken, die etwas
    abzubitten schienen.
    Die Buben wurden von ihrer Traurigkeit
    angesteckt; Franzli, um sich und die Mutter
    zu erheitern, wollte ihr eine von Häberles Ge-
    schichten erzählen.
    „Weißt du es, von den Finken, die sangen:
    Seht ihr das Gold blinken?
    Wir sind die Goldfinken …“
    Sie aber wollte keine Goldgeschichten hö-
    ren, ihr klang das nüchterne Bibelwort in den
    Ohren: „Bleibe im Lande und nähre dich red-
    lich.“
    Als Signor Ercole zur Abreise drängte, zog
    sie Heinz in ihre Kammer, nahm seinen Kopf
    zwischen ihre Hände und sagte: „Du bist der
    Ältere, trag’ Sorge zu dem Kleinen, weil ich es
    nicht kann, und denk’ jeden Morgen beim Auf-
    stehen, du müssest dem Franzli bis zum Abend
    ein kleiner Vater sein.“
    Die Tränen traten dem Knaben bei den be-
    benden Worten in die Augen, und schluchzend,
    aber sich in seiner Beschützerwürde aufrich-
    tend und streckend, versprach er ihr alles. Dann
    wischte er sich tapfer die Augen und trat in das
    Wohnstübchen zurück, wo die beiden andern
    zur Abreise bereit standen. Er faßte Franz bei
    der Hand und führte ihn wie ein Mann und Va-
    ter in den ‚Sack‘ hinab und, ohne den Kopf zu
    wenden, an der Schreinerwerkstatt vorbei und
    dem Bahnhofe zu. Signor Ercole und die Mut-
    ter folgten schweigsam, jedes eigene Gedan-
    kenwege gehend. Als sie in die rauchige Halle
    des Bahnhofes eintraten, vermochte die Mut-
    ter kaum zu atmen, sie stand still und seufzte:
    „Jetzt geht ein neues Unglück an, ich fühle es.“
    „Ein neues Glück! willst du sagen“, erwiderte
    er höflich, küßte sie auf die Wangen und zog
    die Knaben rasch mit sich fort in einen Wagen.
    Die Kleinen drückten die Gesichter noch an
    die Scheiben, als Mutter und Bahnhof längst
    entschwunden waren, und spähten sich schier
    die Augen aus.
    Als der Zug ihre beiden Krausköpfe davon-
    getragen hatte, hinaus in das winterlich frostige
    Land, schritt Frau Seline nach dem Friedhof,
    sie hätte an jenem Morgen keinen andern Weg
    gefunden. Auf dem Grab lag frischer Schnee, so
    rein und, im Sonnenlicht, das die Wolken zer-
    riß, so blendend, daß die Augen der Frau sich
    schlossen. Und durch die zusammengepreßten
    Lider drängten sich langsam und bitter die Trä-
    nen, die Arme wußte nicht, wem sie galten, ob
    dem Andenken des Mannes, der unter der flek-
    kenlosen Decke lag, ob seinen zwei Kindern,
    die sie in die Welt hinaus, ins Vater- und Mutter-
    lose hatte stürmen lassen! In wessen Hut? Sie
    wagte nicht klar zu denken, was sie in dieser
    Stunde gegen ihren Bräutigam empfand.
    Nach Hause zurückgekehrt, war das erste,
    was sie erblickte, ihre zwei Azalien. Sie hatte sie
    in den letzten Tagen vernachlässigt, wie hätte
    sie für derlei Dinge Gedanken gehabt? Unter
    der mangelhaften Pflege und bei dem kargen
    Winterlicht hatten sie sehr gelitten, der klei-
    nere schien halb abgestorben und verloren. Die
    Stöcke redeten zu der verlassenen Mutter wie
    ein Gewissen; so sollte sie nun in den Pflanzen
    täglich ihre Kinder hinsiechen und zugrunde
    gehen sehen! Sie fürchtete sich halb vor ihnen,
    wie vor dämonischen Wesen, und in einer An-
    wandlung von Feigheit trug sie sie zum Flusse
    und warf das Gewissen ins Wasser, um gleich
    nachher ihre Tat, die ihr nun fast wie ein Mord
    vorkam, wieder zu bereuen.
    Es folgten traurige Tage für die einsame
    Mutter in der so still gewordenen Dachwoh-
    nung, in der nichts zu hören war, als dann und
    wann ein Seufzer oder ein Schluchzen oder das
    Rascheln einer Maus in der Diele. Die Uhr an
    der Wand stockte: wozu sie aufziehen? Das
    Feuer auf dem Herde schlief: für wen kochen?
    Die Fensterscheiben trübten sich: wem sollten
    sie glänzen?
    Signor Ercole hatte versprochen, bald zu
    schreiben; aber die erste Woche verstrich und
    die zweite, ohne daß ein Brief eintraf. Seline
    war in Verzweiflung, sie ging nicht mehr an
    die Arbeit, verließ überhaupt das Haus nicht,
    um den Briefträger nicht zu verfehlen. Klang
    ein Schritt auf der Treppe, oder hörte sie vom
    untern Stockwerk her das bekannte zweima-
    lige Läuten, so hämmerte ihr das Herz in der
    Brust. Einmal träumte ihr, sie esse

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