Salto mortale
schwarze
Kirschen; das bedeutet Tod, und von da an ver-
ging sie fast vor Angst, sicherlich waren ihre
Kinder schon hinüber!
Endlich nach mehr als drei Wochen traf der
erste Brief ein und brachte Trost. Das junge
Künstlerpaar war in einer süddeutschen Klein-
stadt zum ersten Male aufgetreten und hatte
die Probe bestanden. Ein Zeitungsausschnitt,
der dem Schreiben beigelegt war, meldete der
Mutter, daß die „Fratelli Arrigo und Fresco
Zobelli, die kleinsten und größten Gleichge-
wichtskünstler der Welt“ vor den Zuschauern
Gnade gefunden hatten, besonders der Kleine,
den der Berichterstatter in Freschino umtaufte
und ein wahres Wunderkind und die Leib ge-
wordene Verwegenheit nannte.
An jenem Abend legte Frau Seline den
Fetzen Zeitung unter ihr Kopfkissen, um auf
dem Ruhme ihrer Kinder zu schlafen und zu
träumen. Nun konnte auch das Glück, das ihr
Bräutigam ihr verheißen, nicht mehr lange aus-
bleiben. Und wirklich, einen Monat später fand
zum erstenmal der Geldbriefträger den Weg in
die Dachwohnung des Hauses zum ‚Sack‘. Er
brachte keine schwere Summe, aber wer wollte
das erste Glück wägen? Man nimmt es hin wie
das Leben, wie die erste Liebe: mit blinden Au-
gen und hüpfendem Herzen.
Auf die erste Sendung folgten in ungleichen
Zwischenräumen andere. Sie wurden alle sorg-
lich gezählt, auf der Hand gewogen und un-
tereinander verglichen. Sie nahmen nach und
nach an Gewicht zu, es konnte kein Zweifel
walten: das Bächlein Wohlstand, das aus der
Fremde den Weg in den ‚Sack‘ gefunden hatte,
schwoll allmählich wie unter einem Wolkense-
gen an und tat wohl, wo es hinfloß. Man denke
doch nach der jahrelangen Dürre!
Zwar ließ es sich Frau Seline nicht weniger
sauer werden als früher, das Brot wollte sie
noch nicht von den Kindern empfangen! Was
ihr aus der Fremde zufloß, legte sie mütterlich
in eine Schublade, es sollte den Kleinen blei-
ben. Wie freute sie sich auf die Sonntage, da sie
in ihrem Stübchen sitzen und ins Weite an ihre
Krausköpfe sinnen und träumen konnte, die
jetzt irgendwo in der Welt draußen, ohne daß
sie auch nur die Richtung am Himmel hätte
angeben können, ihre Kunststücke machten.
Sie las die Briefe ihres Bräutigams und die Zei-
tungen, die er geschickt hatte, sie lernte alles
auswendig wie ein „Unser Vater“. Und dann
wieder machte sie sich über die Schublade her,
in welcher die Geldsendungen Platz gefun-
den hatten, zählte die Silberstücke zum hun-
dertsten Male, betrachtete jedes einzelne von
beiden Seiten, bis sie die ganze Herrlichkeit
kannte wie ihr Küchengeschirr. Und bei dem
Werke stellte sie sich ungereimte Fragen: „Wer
hat von dem Gelde mehr verdient, Heinz oder
Franz? Franz!“ sagte sie sich, denn der Kleine
hatte in ihrem Herzen den größern Platz.
Hütete sie das Geld der Kinder wie ein Berg
seinen Schatz, so machte sie sich ein kindli-
ches Vergnügen daraus, das, was sie von ihrem
eigenen Verdienste nun erübrigen konnte, zur
Ausstattung ihrer Wohnung zu verwenden.
Es stand ja fest, daß sie nun reich würde, da
durfte sie schon etwas leichtsinnig sein! Zuerst
kaufte sie sich zwei Blumenstöcke, Azalien, die
denjenigen, die sie ins Wasser geworfen hatte,
glichen. Sie taufte sie wieder nach ihren Söh-
nen und war vorsichtig genug, die kräftigere
Franzli zu heißen. Der Tod sollte ihr kommen!
Derweil waren mit einem Briefe effektvolle
Photographien von den Knaben angelangt; für
die kaufte sich Frau Seline hübsche Rahmen
und stellte sie recht sichtbar auf die Kommode.
Dann erstand sie sich, für die einmal Heim-
kehrenden bestimmt, zwei Kaffeetassen, die
in goldenen Buchstaben die Worte „Glück auf“
zur Schau trugen, nachher ein Öldruckbild, ein
Mutterglück darstellend, und als Gegenstück
einen eingerahmten Haussegen …
So kam nach und nach ein bescheidener
Luxus in das sonst so demütige Dachstübchen,
und die Witwe hatte nun an ihren einsamen
Sonntagen genug zu tun, die alten und neuen
Dinge zu mustern, die Bilder ihrer Knaben
zu betrachten und Pläne für die Zukunft zu
schmieden: was wollte sie nun zunächst an-
schaffen? wo es kaufen? wo anbringen?
Und war sie mit ihren Projekten im kla-
ren, so griff sie wohl zur Feder und kritzelte
ihr ganzes Hochdeutsch auf ein Blatt schönen
Briefpapiers — sie hatte sich das nämliche aus-
gesucht, das sie einst als junge Braut verwendet,
rosafarbig und mit Goldschnitt. Sie mühte
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