Salto mortale
sich
ab, das köstliche Papier mit Mutterliebe ganz
auszufüllen, und war untröstlich, daß das, was
sie im Herzen hatte, ihr nie warm und weich
und süß genug zu den Fingern und zu der Fe-
der hinausfloß.
Trug sie tags darauf, wenn sie zur Arbeit
ging, das Schreiben zur Post, so erhob sich
am Schalter ein Fragen und Kümmern: ob die
Adresse und die Marke ihre Richtigkeit hätten,
ob die Post die fremde Stadt auch ganz sicher
fände und in der fremden Stadt das Gasthaus
zum „Widder“ oder zur „Krone“. Und es kränkte
sie, daß der Angestellte sie entweder angrinste
oder anschnarchte, und mit dem Schreibstück
gerade so herzlos und gleichgültig umging wie
mit anderer Leute Briefsachen.
War sie in Aufregung, wenn sie ihre Briefe
schrieb und abschickte, so zitterte sie beim
Empfang der Sendungen ihres Bräutigams. Das
häßliche Bild, das sie eine Zeitlang von ihm in
sich getragen, wurde nach und nach, durch den
Glücksschimmer hindurchgesehen, schöner
und freundlicher; ja, die gute Frau verlor nun
wirklich ein Stück ihres Herzens hinaus in die
unbekannte irrefahrende Weite, an den Mann,
der es mit ihren Buben und mit ihr selber so
redlich meinte, der das Glück mit seinen wei-
chen und doch starken Händen streichelte oder
würgte, bis es sich ergab. Was für eine Wohltat
hatte ihr der Himmel nach dem entsetzlichen
Mißgeschick in seiner Gestalt gesandt!
III.
erweil durchmaß die kleine Künstlerge-
D sellschaft auf unstetem Zickzackwege
ganz Süddeutschland. In allen Städten und
Städtchen wurden nach und nach buntfarbige
Plakate an die Mauern geklebt, auf denen in
großen Buchstaben Signor Ercole die fratelli
Arrigo und Freschino Zobelli, die größten und
kleinsten Kopfäquilibristen der Welt einem
löblichen Publikum zur Beachtung empfahl.
Der Leiter der kleinen Gesellschaft war wie
aus Eisen gedreht, wie jene Drahtseile, die, zäh
und geschmeidig zugleich, ganze Räderwerke
und Haufen von Menschen in fieberndes Leben
versetzen. Er tauchte in allen Redaktionsstu-
ben auf, ein Freibillett in der einen Hand und
ein Bündel Zeitungen in der andern, und es
geschah selten, daß er das Büro verließ, ohne
einen der Herren für seine Sache gewonnen zu
haben. Er verstand das Geschäft der Reklame
trefflich und wußte überall mit seinem schar-
fen Auge die Tasten zu entdecken, auf die man
drücken mußte, um die Orgelpfeifen der Presse
erschallen zu lassen.
Für seine kleinen Künstler war er besorgt
wie eine Gluckhenne für ihre Jungen. Er wusch
und kämmte sie selber, bürstete ihre Kleider,
ließ ihnen kräftige Nahrung und reichlichen
Schlaf zuteil werden, sah zu, daß nichts ihnen
die Freude an dem Künstler-Wanderleben ver-
kümmerte. Freilich mußten die Kleinen sich
noch mehr rühren als zu Hause. Sie wurden
mit der Peitsche der Ruhmsucht in ihrer Kunst
stets vorwärts und höher hinauf getrieben und
fanden so wenig Zeit, sich nach der Mutter und
dem Hause zum ‚Sack‘ zurückzusehnen, kaum
im Bette vor dem Einschlafen, denn da waren
sie meistens so müde, daß mitten im Abendge-
bet der Schlummer sie zudeckte. Wo es einzu-
richten war, ließ Signor Ercole die beiden Kna-
ben wie zu Hause im nämlichen Bette schlafen.
Da nahm dann Heinz des Bruders Hand in
die seine, damit er sich in dem wildfremden
Raum nicht fürchte, und so schliefen sie ein,
mit einem Wort des „Unser Vater“ auf den Lip-
pen, mit einem Gedanken an die Mutter in der
Brust, selten mit einer heimweherfüllten Träne
in den Wimpern.
Jeden Morgen erinnerte sich Heinz beim Er-
wachen an die Ermahnungen der Mutter. Er
richtete sich so behutsam, als er konnte, im
Bette empor und schaute dem Bruder ins ruhige
rotwangige Gesicht, und ein Freudenschauer
durchfuhr ihn, daß Franz so gesund und frisch
neben ihm den Atem einzog. Er wartete still, bis
er die Augen öffnete, um sich sah und beim An-
blick des „Großen“ lächelnd sein „Guten Tag!“
stammelte. Dann kam es vor, daß die Lippen der
Knaben wie Rosenknospen sich spitzten und
einander berührten, obschon derlei Übung im
Hause der Mutter wenig gepflegt worden war.
Den ganzen Tag wachte Heinz mit besorgten
Blicken über den Kleinen. Das frühe Vatertum,
das ihm die Mutter überbunden hatte, erfüllte
ihn mit Stolz und hob ihn in seinen eigenen
Augen. Der Ehrgeiz, dessen Stachel überall
und in allem hinter ihm her war, ließ ihn auch
in diesen Dingen nicht nachlässig werden,
Weitere Kostenlose Bücher