Salto mortale
und
er war manchmal auf Signor Ercole eifersüch-
tig, weil er ihm so wenig zu tun übrig ließ. Gin-
gen die Knaben durch die Stadt, so sah man sie
immer Hand in Hand. Bei den Kunstübungen
zitterte Heinz für den Kleinen, da der für sich
nicht zu bangen vermochte; denn Franz machte
auch das Verwegenste mit einem Vertrauen,
als gäbe es für ihn keinen Fall, als sähe er stets
zwei Engel an seiner Seite, um ihn zu halten,
zu stützen und sanft aufzuheben. Darum ge-
riet ihm auch alles so wohl, darum verließ ihn
sein anmutiges Lächeln selbst in der heikelsten
Lage nie, darum auch waren ihm die Hände
zum Klatschen so willig.
Heinz fühlte wohl, daß der Beifall, der ihnen
nun fast allabendlich aus dem Zuschauerraum
entgegenrauschte, zum kleinen Teile ihm galt,
und sein Selbstgefühl erfuhr manche Demüti-
gung. Zuweilen rüttelte ihn da der Neid gegen
Franz, aber diese Regungen gingen rasch vor-
über, besonders deshalb, weil Heinz sah, daß
der Kleine sich auf den Beifall gar nichts ein-
bildete, ja nicht einmal zu merken schien, daß
die Leute ihm den Vorzug gaben.
Nach ungefähr anderthalb Jahren trat für
die kleine Wandertruppe eine wichtige Ver-
änderung ein: sie vereinigte sich mit ein paar
andern zu einer ansehnlichen Variétégesell-
schaft, deren Leitung sich der rührige Signor
Ercole anzueignen wußte. Waren da ein halbes
Dutzend Schwarze, die ihre seltsamen Tänze
aufführten; ein Mann mit allerlei dressierten
Tieren, wie Hunden, Gänsen, Störchen, ja so-
gar Schweinchen, Biestelvater nannte man ihn
allgemein; drei Athleten mit kleinen Köpfen
und elefantischen Gliedmaßen, und eine Seil-
tänzertruppe: ein Elternpaar mit drei Söhnen
und zwei Töchtern.
Eines Morgens, als die Brüder im Garten
des Gasthauses, in dem sie abgestiegen waren,
spielten, kam ein fremdes Mädchen von etwa
zehn Jahren auf sie zu, schlank, etwas bleich,
mit flachsblondem, welligem Haar und hellen,
glänzenden Augen.
„Ihr seid die Zobelli, ich bin die Bianca, die
Seiltänzerin; wir gehören nun zueinander, ihr
wißt doch!“
So redete sie die Knaben an. Sie hatten
nichts zu erwidern, weshalb das Mädchen in
Lachen ausbrach und rief: „Schaut doch nicht
gar so dumm drein! Habt ihr denn noch nie ein
Mädel g’sehn? Kommt! Wir wollen durch den
Garten gehn!“
Dies sagend, faßte sie Heinz am Arm und
zog den halb Willigen, halb Widerspenstigen
den bekiesten Weg entlang. Die ersten Rosen
blühten im Garten. Als die Kinder an einem
niedlichen Bäumchen vorbeikamen, sagte Franz
zum Bruder. „Sieh da die Blumen!“ Da stand
das Mädchen still und begann sich ein Vergnü-
gen daraus zu machen, den Rosen mit ihrem
langen, schmalen Mittelfinger Stüber zu geben
und so den Boden mit roten Blättern zu besäen.
„Das nicht!“ rief Heinz.
„Was hast du mir zu befehlen, dummer
Bub?“ zischte sie, faßte eine volle Rose, riß sie
vom Zweige und schleuderte die Handvoll ro-
ter Blätter dem Jungen ins Gesicht. Das Rot der
Rose schien auf des Knaben Wangen abgefärbt
zu haben, der Zorn loderte in ihm, er hätte sie
schlagen mögen. Unwillig wendete er sich ab
und zog Franz von dem seltsamen Wesen, das
er nun beinahe fürchtete, weg. Er hatte nicht
den Gedanken, aber das Gefühl, daß wer eine
Rose so zerzausen könne, auch imstande sei,
einem Menschen etwas Böses anzutun. Die fol-
genden Tage ging er Bianca aus dem Wege; sie
aber ließ sich nicht abschrecken, sie suchte die
beiden Zobelli immer wieder auf, kehrte dabei
ihr sanftestes Gesicht heraus und schmachtete
mit ihren demütigsten Augen. Sie war mit zehn
Jahren eine vollendete Schauspielerin, und es
ging nicht lange, so hatte sie den schmollenden
Heinz versöhnt und mehr als das.
„Wir müssen zusammenhalten,“ sagte sie,
„Kameraden werden und Freundschaft schlie-
ßen.“ Aber sie verstand die Freundschaft auf
ihre Weise. Sie war eine kleine launische Ty-
rannin; durch das Wanderleben frühreif und
selbständig geworden, brauchte sie jemand, auf
den sie ihren niedlichen Seiltänzerschuh set-
zen konnte, und dazu schienen ihr die dum-
men fratelli Zobelli wie geschaffen.
Freilich mit Franz trieb sie ihr Spiel nicht
lange. Wenn sie ihn in ihrer herzlosen Herrsch-
sucht zu einem Knechtlein herabdrücken wollte,
steckte er die Hände in seine Hosentaschen und
sah sie mit seinen glänzenden braunen Augen
so störrisch und verächtlich und doch wieder
so gutmütig an, daß er
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